3. Januar 2017

GRENZEN SETZEN!

Mar­tin Sell­ner hat am 30.12 auf dem Blog der Sezes­si­on unter dem Titel „Sün­den­bock und Kan­ten­sche­re“ (http://sezession.de/56928/) einen poli­ti­schen Distan­zie­rungs­ver­such vor­ge­legt, der in den Kon­se­quen­zen rich­tig, in der Begrün­dung aber noch klä­rungs­be­dürf­tig ist.

Ohne Zwei­fel rich­tig ist, daß wir uns vom extre­mis­ti­schen Nar­ren­saum distan­zie­ren müs­sen, weil er uns als eine läs­ti­ge Kugel­fes­sel Wir­kungs­ra­di­us nimmt und uns dar­an hin­dert, ins Zen­trum der Macht vor­zu­sto­ßen. Falsch jedoch ist die Vor­stel­lung, es han­de­le sich dabei um eine Art Preis der Macht, eine Ein­tritts­kar­te, ein Opfer, das das Sys­tem von uns for­dert. Das Sys­tem der Alt­par­tei­en­herr­schaft for­dert gar nichts von uns. Es ver­tei­digt sei­ne Macht.

Halb mytho­lo­gi­sie­rend, halb psy­cho­lo­gi­sie­rend meint Sell­ner, daß die dem­nächst noch ins patrio­ti­sche Lager über­lau­fen­den Oppor­tu­nis­ten als Recht­fer­ti­gung ihrer spä­ten Umkehr einen Sün­den­bock bräuch­ten: Radi­ka­le Ele­men­te, die dem Oppor­tu­nis­ten eine Mög­lich­keit bie­ten, zu erklä­ren, wes­halb er trotz der ein­deu­ti­gen Ver­hält­nis­se so lan­ge nicht über­ge­lau­fen ist. Er konn­te doch erst die Sei­ten wech­seln, nach­dem das patrio­ti­sche Lager die Radi­ka­lin­skis in einem Selbst­rei­ni­gungs­pro­zeß aus­ge­schie­den hat­te. So ähn­lich war das mit den Grü­nen und Alt68ern und so ähn­lich wird das nun anders her­um auch verlaufen.

Um den Sei­ten­wech­sel der Oppor­tu­nis­ten und damit die Wen­de, die wir alle wol­len, zu erleich­tern, soll­ten wir des­halb, so Sell­ner, in Got­tes Namen end­lich das Opfer brin­gen und den Sün­den­bock in Gestalt der poli­tik­un­fä­hi­gen Radi­ka­lin­skis aus­trei­ben. So errei­chen wir, daß der Wind sich rich­tig dreht und gewin­nen Zugang zu jenen Zonen, in denen wir tat­säch­lich etwas ver­än­dern kön­nen. Wenn wir selbst die­je­ni­gen zum Süd­enbock erklä­ren, die ohne­hin zu nichts zu gebrau­chen sind – Sell­ner spricht von Anti­se­mi­ten und Ras­sis­ten -, behal­ten wir das Heft in der Hand und das Stück Defi­ni­ti­ons­macht, das wir brau­chen, um das, wor­auf es wirk­lich ankommt, durch­zu­set­zen: “eine gesell­schaft­li­che Abwen­dung von Eth­no­ma­so­chis­mus, lin­kem Uni­ver­sa­lis­mus, Inter­na­tio­na­lis­mus und Egalitarismus.”

Das Publi­kum hat dar­auf bis­lang mit über 170 Wort­mel­dun­gen reagiert. Wie ein Leit­mo­tiv aber zieht sich ein gewis­ses Unbe­ha­gen selbst durch die eher wohl­wol­len­den und aner­ken­nen­den Kom­men­ta­re. Ver­fah­ren wir, wenn wir uns von diver­sen Reichs­bür­ger-Grüpp­chen, von “Thügida/Wir lie­ben Sach­sen”, von der NPD etc. distan­zie­ren nicht so wie die Sys­tem­lin­ge uns gegen­über? Was also unter­schei­det uns noch von den Sys­tem­lin­gen? Daß wir uns nur auf höhe­rer Stu­fe distan­zie­ren? Unter­schei­det uns dann über­haupt noch etwas von ihnen? Zei­gen wir schon die ers­ten Sym­pto­me der Distan­zie­re­ri­tis? Sind nicht auch wir schon infi­ziert? Teil des Sys­tems und mer­ken es nicht? Ande­rer­seits: Ist eine sol­cher­ma­ßen skru­pu­lö­se Selbst­be­fra­gung nicht auch wie­der­um Aus­druck einer ideo­lo­gi­schen Ver­blen­dung? Wes­halb nicht ganz unge­niert all jene von uns wei­sen, die mög­li­cher­wei­se mit uns ein Bünd­nis wol­len, mit denen wir aber kein Bünd­nis wol­len, weil wir ihre Vor­stel­lun­gen nicht tei­len und nicht auf fau­le Kom­pro­mis­se ange­wie­sen sind?

Das Unbe­ha­gen und die Selbst­zwei­fel sind falsch! Es kommt nicht dar­auf an, die Kan­ten­sche­re als Dis­kurs­form zu über­win­den, son­dern dar­auf, sie an der rich­ti­gen Stel­le anzu­set­zen. Sell­ner spricht es klar aus: „Es geht dar­um, daß die Kan­ten­sche­re zwi­schen der Alten und der Neu­en Rech­ten und nicht zwi­schen Oppor­tu­nis­ten und Idea­lis­ten ver­läuft.“ Das ist die Quint­essenz der gesam­ten Debat­te. Am Auf­satz von Sell­ner schei­den sich die Geis­ter in die­je­ni­gen, die das ver­ste­hen, und die­je­ni­gen, die es nicht ver­ste­hen kön­nen oder nicht ver­ste­hen wollen.

Wo der rich­ti­gen Ansatz­punkt für die Kan­ten­sche­re liegt, sagt uns die aktu­el­le Lage. Die rich­ti­ge Stel­le ist jene Stel­le, die unse­rer Sache unter den gegen­wär­ti­gen Bedin­gun­gen maxi­ma­len poli­ti­schen Erfolg ver­spricht. Unse­re Sache ist die Sache des deut­schen Vol­kes. Maxi­mal heißt gewiß nicht: Erfolg bis hin zur Ver­let­zung der gro­ßen Ord­nung und womög­lich dar­über hin­aus. Maxi­ma­ler Erfolg heißt: maxi­ma­len Schutz für die gro­ße Ord­nung, maxi­ma­len Nut­zen für das deut­sche Volk. Kon­ket gespro­chen: Soviel Remi­gra­ti­on wie mög­lich, soviel kul­tu­rel­le Selbst­be­haup­tung wie mög­lich, soviel natio­na­le Sou­ve­rä­ni­tät wie mög­lich. Der Mög­lich­keits­rah­men ist die Ord­nung unse­res Rechts, die uns, wenn nur der poli­ti­sche Wil­le bestün­de, so vie­le Instru­men­ta­ri­en für einen Rich­tungs­wech­sel böte, daß nie­mand ihre Auf­he­bung for­dern müßte.

Kon­kret gespro­chen: Es ist schäd­lich, ein Koran­ver­bot und Moscheeschlie­ßun­gen zu for­dern, wenn das Maxi­mum, das wir ange­sichts der Macht- und Rechts­ver­hält­nis­se errei­chen kön­nen, ein Mina­rett­ver­bot, ein Schlei­er­ver­bot im öffent­li­chen Dienst und der poli­ti­sche Bruch mit den Islam­ver­bän­den ist. Dann ist es bes­ser, kein Koran­ver­bot und kei­ne Moscheeschlie­ßun­gen zu for­dern, son­dern sich mit den Ver­bün­de­ten, die man dann gewinnt, für ein Mina­rett­ver­bot, ein Schlei­er­ver­bot im öffent­li­chen Dienst und den poli­ti­schen Bruch mit den Islam­ver­bän­den ein­zu­set­zen. Und damit wäre schon so viel erreicht, daß wir rund­um zufrie­den sein könn­ten: Die voll­stän­di­ge Ent­mach­tung der Islam­lob­by und die Wie­der­her­stel­lung deut­scher Kul­tur­ho­heit. Was wol­len wir mehr?

Wir soll­ten auch gar kein Koran­ver­bot und kei­ne Moscheeschlie­ßun­gen wol­len, weil wir damit tat­säch­lich die Glau­bens­frei­heit negie­ren und dem Kli­schee, das sich der Feind von uns macht, ent­spre­chen wür­den. Wir wür­den einen wesent­li­chen Teil unse­rer Kul­tur ver­leug­nen, und das wie­der­um wäre doch nur eine ande­re Gestalt der Selbst­auf­ga­be. Wir wol­len das Maxi­mum an natio­na­lem Inter­es­se befrie­di­gen, das mög­lich ist, ohne die Grund­fes­ten unse­rer Ord­nung zu erschüt­tern, d.h. ohne uns selbst aufzugeben.

Die Distan­zie­rung von den Extre­mis­ten mag den Oppor­tu­nis­ten ein psy­cho­lo­gi­sches Ent­las­tungs­mo­ment schaf­fen, für uns aber ist sie kein Opfer. Hier irrt Sell­ner ein wenig. Wir ver­zich­ten auf nichts, wir geben nichts preis und wir neh­men uns nicht zurück, im Gegen­teil. Wir kün­di­gen nur eine schon an sich fal­sche, weil künst­li­che und schäd­li­che Ein­heit auf – etwas, was wir ohne­hin und ohne stra­te­gi­sche Über­le­gun­gen im Hin­ter­grund tun sollten.

Wer als kleins­ten gemein­sa­men Nen­ner nur den gemein­sa­men Feind hat, der ist nicht mehr als das Abbild die­ses gemein­sa­men Fein­des. Das hie­ße sich aus­lie­fern, bevor der Kampf begon­nen hat. Wir dür­fen dem Feind kei­ne Defi­ni­ti­ons­macht über uns geben. Wir dür­fen uns von ihm nicht in eine als falsch erkann­te Ein­heit zwin­gen las­sen. Der Feind mei­nes Fein­des muß nicht mein Freund sein! Distan­zie­ren wir uns vor allen Din­gen von die­sen bil­li­gen Argumenten!

Sich abzu­gren­zen, ist Aus­druck einer Stand­ort­be­stim­mung. Wir Rech­te wis­sen um die Lebens­not­wen­dig­keit der Gren­zen. Wir wen­den uns auf allen poli­ti­schen Fel­dern gegen die libe­ra­len Ent­gren­zungs­ideo­lo­gien, nur wenn es um uns selbst geht, dann sol­len wir unter­schieds­los alles in uns auf­neh­men, was das Sys­tem als Feind mar­kiert hat. Das ist kein eige­ner Stand­punkt, das ist nur eine ande­re Art, den Sys­tem­t­rot­tel zu spie­len. Wir machen uns selbst zum Spuck­napf des Estab­lish­ments, zur Polithu­re, die ohne Unter­schied jeden ran- und rein­läßt, der von den Alt­par­tei­en abge­wie­sen wird.

Wah­re Frei­heit und Selbst­be­stim­mung lie­gen nicht dar­in, zu allem, was der Feind tut, mecha­nisch die Anti­the­se zu set­zen, und sich so zu sei­ner per­fek­ten Mario­net­te zu machen. Wah­re Frei­heit und Selbst­be­stim­mung lie­gen dar­in, eine kri­ti­sche Distanz zum Feind zu hal­ten. Kri­ti­sche Distanz heißt: Es ist nicht alles schlecht, was der Feind treibt, doch was schlecht ist und was nicht, beur­tei­len wir nach unse­ren eige­nen Maßstäben.

Wenn wir uns gegen das Sys­tem wen­den und damit die Ent­ar­tung von Frei­heit und Demo­kra­tie im links­li­be­ra­len Alt­par­tei­en­kar­tell mei­nen, las­sen wir uns nicht unter­schie­ben, wir mein­ten damit in Wahr­heit die Frei­heit und die Demo­kra­tie an sich, die wir ins­ge­heim abschaf­fen woll­ten. Wir las­sen es uns nicht von den Denun­zi­an­ten im Sys­tem unter­schie­ben und wir las­sen es uns erst recht nicht von den fal­schen Freun­den unter­schie­ben, die sich auf unse­re Sei­te stel­len und etwas in die­ser Art tat­säch­lich wollen.

Sell­ners Plä­doy­er hat die­se Kom­pli­zen­schaft von links­li­be­ra­len Sys­tem­lin­gen und Nazi­clowns bei ansons­ten mes­ser­schar­fer Refle­xi­on nicht in der not­wen­di­gen Klar­heit erkannt. Das Sys­tem will in Wahr­heit von uns kei­ne Distan­zie­rung. Der psy­cho­lo­gi­sche Ent­las­tungs­ef­fekt für die Oppor­tu­nis­ten mag bestehen, ist aber ein ver­nach­läs­sig­ba­rer Neben­fak­tor. Das Sys­tem weiß sehr wohl, was not­wen­dig ist, sich selbst zu erhal­ten. Das Sys­tem ver­langt von uns zwar eine Distan­zie­rung, aber will in Wahr­heit, daß wir sie nicht erbrin­gen, um uns eben des­halb nur umso bes­ser von den Schalt­stel­len der Macht fern­hal­ten zu kön­nen. Des­halb wer­den die Ges­ten der Distan­zie­rung nicht aner­kannt und belohnt, son­dern bes­ten­falls beant­wor­tet, indem man uns Mimi­kry unter­stellt. Es kann nicht oft genug gesagt wer­den: Das Sys­tem will nicht, daß wir uns distan­zie­ren, weil wir dann nicht mehr dem Bild ent­spre­chen, das es sich von uns gemacht hat.

Es gibt eben des­halb kei­ne bes­se­re Metho­de, das Sys­tem anzu­grei­fen, als sich in aller Selbst­ver­ständ­lich­keit vom extre­mis­ti­schen Nar­ren­saum zu distan­zie­ren. Denn die­sen Nar­ren­saum hat im Jah­re 2017 in der BRD kei­ne ande­re Funk­ti­on als, uns klein zu hal­ten. Wenn wir ihn abschnei­den, brin­gen wir nicht im gerings­ten ein Opfer; wir spren­gen die Fes­seln. Alles kommt also dar­auf an, die sog. “Reichs­bür­ger”, “Thügida/Wir lie­ben Sachen”, so man­che Kame­rad­schaft und, was sonst noch an untaug­li­chen For­mie­run­gen am rech­ten Nar­ren­saum kreucht und fleucht, als das ande­re Gesicht der links­li­be­ra­len Estab­lish­ments zu erken­nen: als die Kari­ka­tur, die sie von uns zeich­nen und die mehr über sie sagt als über uns.

In die­sem Sin­ne bedeu­tet Distan­zie­rung immer Äqui­di­stanz zu extre­mis­ti­schen Irr­gän­gern wie auch zum links­li­be­ra­len Estab­lish­ment. Eine sol­che Distan­zie­rung nach bei­den Rich­tun­gen hat nicht das Gerings­te mit „Distan­zie­re­ri­tis“ zu tun – es ist die über­leg­te Mar­kie­rung des eige­nen Stand­punkts nach bei­den Sei­ten, kein Opfer und nichts, wofür man sich auch nur ansatz­wei­se recht­fer­ti­gen müßte.

Distan­zie­re­ri­tis – die pani­sche Flucht – kennt immer nur eine Rich­tung und tritt des­halb in zwei Gestal­ten auf. Es ist Distan­zie­re­ri­tis, wenn das Estab­lish­ment sich von allem distan­ziert, was “rechts” ist, und es ist genau­so Distan­zie­re­ri­tis, wenn sich der extre­mis­ti­sche Nar­ren­saum von allem distan­ziert, was „Sys­tem“ ist. Wenn wir aber unse­ren eige­nen Stand­punkt fin­den wol­len, hal­ten wir uns in glei­chem Abstand von bei­den Gestal­ten des Fein­des. Dazu sind wir – und da hat Sell­ner wie­der recht – aus eige­ner Stär­ke in der Lage. Alles, was wir brau­chen, ist Ver­trau­en in die­se Stär­ke, die uns von fal­schen Bünd­nis­part­nern unab­hän­gig macht.

Hans-Tho­mas Tillschneider