SCHULDFORSCHUNG
Als 2010 in Berlin die Ausstellung „Hitler und die Deutschen“ eröffnet wurde, begann eine Debatte darüber, ob man das denn dürfe, Hitler im Museum zeigen. Hinter der oberflächlichen Angst, das, was Aufklärung sein wolle, könne gegen die Absicht der Verantwortlichen als Propaganda rezipiert werden, verbarg sich ein viel grundsätzlicheres Problem. Aus Sicht derer, die Deutschlands zwölf Unglücksjahre zwischen 1933 und 1945 unter negativem Vorzeichen sakralisieren wollen, ist die Kritik an einer solchen Ausstellung nur konsequent. Was im Museum liegt, ist gänzlich vergangen. Seine Bezüge zur Gegenwart sind abgestorben, so daß es nur noch als Exponat interessiert: künstlich beleuchtet, isoliert in Vitrinen aufbewahrt, versehen mit einem Kommentarzettel, der Aussagen über das trifft, was dem Exponat an Welt verloren gegangen ist und wofür das Exponat nun als Illustration einsteht. Kein Ort schafft so sehr historische Distanz wie das Museum. Gegenüber einer Vergangenheit, die nicht vergehen soll, darf eine solche Distanz nicht sein.
Die Lösung: Aus dem Ganzen wurde eine Gegenpropagandashow gemacht, die auf ihre Weise genauso Propaganda ist wie der Antifaschismus Faschismus und die einer mißbräuchlichen Rezeption als Propaganda gewiß nicht mehr Widerstand entgegensetzt als eine nüchterne Darstellung aus historischem Abstand. So brachte die Diskussion um die Ausstellung in erster Linie eine klammheimliche Komplizenschaft zwischen Altnazis und Vergangenheitsbewältigern zum Vorschein, die einander zum Leben brauchen und sich – unter entgegengesetzem Vorzeichen freilich – einig sind in ihrem Interesse, jene Vergangenheit nicht vergehen lassen zu wollen.
Was in den letzten Jahren unter dem Titel „Provenziensforschung“ als Subdisziplin der Geschichtswissenschaft vom etablierten Wisenschafts- und Politikbetrieb nach Kräften beworben und gefördert wird, reiht sie hier ein. Es ist nichts anderes als ein neuer Versuch, die Vergangenheit der Hitlerzeit trotz ihres Eingangs in das Museum dem Vergehen zu entreißen.
„Provenienzsforschung“, so gibt der Begriff zu verstehen, erforscht die Besitzgeschichte eines Museumsstücks, wobei sich das Interesse fast ausschließlich auf Stücke in deutschen Museen beschränkt, die zur NS-Zeit unrechtmäßig erworben wurden. Die Räubereien der Sowjetunion kommen nur am Rande zur Sprache. Die Herkunft und die Besitzwechsel von Museumsexponaten aus der Zeit vor 1933 interessieren nicht. So steht a priori fest, daß der hochtrabende Anspruch, eine „Biographie der Objekte“ zu schreiben, nicht eingelöst werden soll. Die eigentliche Frage ist nicht die Frage nach Herkunft, sondern nach der Rechtmäßigkeit des Erwerbs, wobei nur der unrechtmäßige Erwerb, der Schuld begründet, interessiert. Präziser müßte also von Schuldforschung die Rede sein, wobei a priori feststeht, daß es um deutsche Schuld geht. Es geht um Exponate, die gegenwärtig in deutschen Museen lagern, nicht um all das, was aus deutschen Museen verschleppt wurde und wovon ein Gutteil immer noch in irgendwelchen Geheimarchiven der Siegermächte verrottet. Wäre die Provenienzforschung unvoreingenommen, müßte sie durch eine „Verbleibsforschung“ ergänzt werden, die untersucht, unter welchen Umstände Stücke unrechtmäßig aus deutschen Museen verbracht wurde.
Bevor es die Provenienzforschung gab, wurden derlei Fragen im Rahmen von Gerichtsverhandlungen nachgegangen. Gerade diese „anlaßbezogene“ „Forschung“ aber soll überwunden werden. Im Vorwort zur ersten Ausgabe von „Provenienz & Forschung“, dem 2016 begründeten Periodikum zur neuen Disziplin, erklärt Uwe Hartmann: „Ein ausschließlich reaktiver Ansatz beim Aufgreifen dieser Problematik wurde auch von den Trägern der deutschen Museen, Bibliotheken, Archive und weiterer öffentlichen Sammlung als unzureichend eingeschätzt“ (P&F 2016/1, S. 4)
In Zukunft soll also nicht mehr nur dann, wenn ein Alteigentümer oder dessen Erben Restitution fordern, die Rechtmäßigkeit der Besitzverhältnisse geprüft werden, nein, der gesamte Bestand aller deutschen Museen, Bibliotheken, Archive und „weiterer öffentlichen Sammlung“ wird unter Generalverdacht gestellt und prophylaktisch durchgeprüft, was ein Projekt von Jahrzehnten sein dürfte und die Errichtung einer eigenen historischen Subdisziplin allein schon durch den Arbeitsaufwand äußerlich rechtfertigt.
Die gesamte in unseren Museen repräsentierte Geschichte verengt sich auf die Frage, ob die Exponate zwischen 1933 und 1945 rechtmäßig den Besitz gewechselt haben. So erscheint es auf einmal fragwürdig, ob unsere Geschichte auch in der Tat unsere eigene Geschichte ist. Die Provenienzforschung bringt ein Unbehagen in unser Verhältnis zu den Museumsstücken und lenkt von der reichen und schönen Geschichte ab, die sie eigentlich repräsentieren. Die im Museum anwesende Geschichte wird mit Geschichten der Schuld durchsetzt.
Das ist ganz im Sinne der herrschenden Politik. Hinzu kommt eine eigentümliche Attraktivität dieser Art Forschung für die Geschichtswissenschaft aus eher unpolitischen, systemimmanenten Gründen. Angesichts der Krise der Geschichtswissenschaft verspricht die Provenienzforschung Sinn und methodische Orientierung. Die Frage nach der Herkunft ist klar, einfach, handlich: Etwas zum Festhalten wie das Ausstellungsstück. Mag man auch nicht mehr mit Rankescher Naivität beanspruchen können, zu zeigen, wie es wirklich gewesen ist, so soll man doch wenigstens zeigen können, wer etwas zu Recht oder zu Unrecht besessen hat. Die Provenzienzforschung verheißt den unter Orientierungslosigkeit leidenden historischen Wissenschaft methodische Erlösung und gibt, als wäre das nicht genug, auch noch einen hochmoralischen Sinn dazu, von den Fördergeldern ganz zu schweigen.
Angesichts eines solch verlockenden Angebots mögen auch gestandene Historiker darüber hinwegsehen, daß die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Erwerbung zwischen 1933 und 1945 die Komplexität und Offenheit wissenschaftlicher Fragestellungen vermissen läßt. Es handelt sich um eine banale Fragestellung, die, wenn es notwendig wird, die Polizei und die Gerichte beschäftigen sollte, aber nicht eine Geschichtswissenschaft, die den Anspruch erhebt, eine Wissenschaft zu sein und kein billiger Büttel der Politik. Indem die Geschichtswissenschaft dieses sacrificum intellectualis bereitwillig erbringt und das, was Forschung sein sollte, auf die Ermittlung von Schuld reduziert, stellt sie unter Beweis, daß sie trotz aller Vergangenheitsbewältigung ihrer historischen Verantwortung immer noch nicht gerecht wird und gerade das, was es aus der Geschichte zu lernen gäbe, nicht gelernt hat.
Hans-Thomas Tillschneider