26. Oktober 2016

SCHULDFORSCHUNG

Als 2010 in Ber­lin die Aus­stel­lung „Hit­ler und die Deut­schen“ eröff­net wur­de, begann eine Debat­te dar­über, ob man das denn dür­fe, Hit­ler im Muse­um zei­gen. Hin­ter der ober­fläch­li­chen Angst, das, was Auf­klä­rung sein wol­le, kön­ne gegen die Absicht der Ver­ant­wort­li­chen als Pro­pa­gan­da rezi­piert wer­den, ver­barg sich ein viel grund­sätz­li­che­res Pro­blem. Aus Sicht derer, die Deutsch­lands zwölf Unglücks­jah­re zwi­schen 1933 und 1945 unter nega­ti­vem Vor­zei­chen sakra­li­sie­ren wol­len, ist die Kri­tik an einer sol­chen Aus­stel­lung nur kon­se­quent. Was im Muse­um liegt, ist gänz­lich ver­gan­gen. Sei­ne Bezü­ge zur Gegen­wart sind abge­stor­ben, so daß es nur noch als Expo­nat inter­es­siert: künst­lich beleuch­tet, iso­liert in Vitri­nen auf­be­wahrt, ver­se­hen mit einem Kom­men­tar­zet­tel, der Aus­sa­gen über das trifft, was dem Expo­nat an Welt ver­lo­ren gegan­gen ist und wofür das Expo­nat nun als Illus­tra­ti­on ein­steht. Kein Ort schafft so sehr his­to­ri­sche Distanz wie das Muse­um. Gegen­über einer Ver­gan­gen­heit, die nicht ver­ge­hen soll, darf eine sol­che Distanz nicht sein.

Die Lösung: Aus dem Gan­zen wur­de eine Gegen­pro­pa­gan­da­show gemacht, die auf ihre Wei­se genau­so Pro­pa­gan­da ist wie der Anti­fa­schis­mus Faschis­mus und die einer miß­bräuch­li­chen Rezep­ti­on als Pro­pa­gan­da gewiß nicht mehr Wider­stand ent­ge­gen­setzt als eine nüch­ter­ne Dar­stel­lung aus his­to­ri­schem Abstand. So brach­te die Dis­kus­si­on um die Aus­stel­lung in ers­ter Linie eine klamm­heim­li­che Kom­pli­zen­schaft zwi­schen Alt­na­zis und Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gern zum Vor­schein, die ein­an­der zum Leben brau­chen und sich – unter ent­ge­gen­ge­set­zem Vor­zei­chen frei­lich – einig sind in ihrem Inter­es­se, jene Ver­gan­gen­heit nicht ver­ge­hen las­sen zu wollen.

Was in den letz­ten Jah­ren unter dem Titel „Pro­ven­zi­en­s­for­schung“ als Sub­dis­zi­plin der Geschichts­wis­sen­schaft vom eta­blier­ten Wisen­schafts- und Poli­tik­be­trieb nach Kräf­ten bewor­ben und geför­dert wird, reiht sie hier ein. Es ist nichts ande­res als ein neu­er Ver­such, die Ver­gan­gen­heit der Hit­ler­zeit trotz ihres Ein­gangs in das Muse­um dem Ver­ge­hen zu entreißen.

„Pro­ve­ni­enzs­for­schung“, so gibt der Begriff zu ver­ste­hen, erforscht die Besitz­ge­schich­te eines Muse­ums­stücks, wobei sich das Inter­es­se fast aus­schließ­lich auf Stü­cke in deut­schen Muse­en beschränkt, die zur NS-Zeit unrecht­mä­ßig erwor­ben wur­den. Die Räu­be­rei­en der Sowjet­uni­on kom­men nur am Ran­de zur Spra­che. Die Her­kunft und die Besitz­wech­sel von Muse­ums­expo­na­ten aus der Zeit vor 1933 inter­es­sie­ren nicht. So steht a prio­ri fest, daß der hoch­tra­ben­de Anspruch, eine „Bio­gra­phie der Objek­te“ zu schrei­ben, nicht ein­ge­löst wer­den soll. Die eigent­li­che Fra­ge ist nicht die Fra­ge nach Her­kunft, son­dern nach der Recht­mä­ßig­keit des Erwerbs, wobei nur der unrecht­mä­ßi­ge Erwerb, der Schuld begrün­det, inter­es­siert. Prä­zi­ser müß­te also von Schuld­for­schung die Rede sein, wobei a prio­ri fest­steht, daß es um deut­sche Schuld geht. Es geht um Expo­na­te, die gegen­wär­tig in deut­schen Muse­en lagern, nicht um all das, was aus deut­schen Muse­en ver­schleppt wur­de und wovon ein Gut­teil immer noch in irgend­wel­chen Geheim­ar­chi­ven der Sie­ger­mäch­te ver­rot­tet. Wäre die Pro­ve­ni­enz­for­schung unvor­ein­ge­nom­men, müß­te sie durch eine „Ver­bleibs­for­schung“ ergänzt wer­den, die unter­sucht, unter wel­chen Umstän­de Stü­cke unrecht­mä­ßig aus deut­schen Muse­en ver­bracht wurde.

Bevor es die Pro­ve­ni­enz­for­schung gab, wur­den der­lei Fra­gen im Rah­men von Gerichts­ver­hand­lun­gen nach­ge­gan­gen. Gera­de die­se „anlaß­be­zo­ge­ne“ „For­schung“ aber soll über­wun­den wer­den. Im Vor­wort zur ers­ten Aus­ga­be von „Pro­ve­ni­enz & For­schung“, dem 2016 begrün­de­ten Peri­odi­kum zur neu­en Dis­zi­plin, erklärt Uwe Hart­mann: „Ein aus­schließ­lich reak­ti­ver Ansatz beim Auf­grei­fen die­ser Pro­ble­ma­tik wur­de auch von den Trä­gern der deut­schen Muse­en, Biblio­the­ken, Archi­ve und wei­te­rer öffent­li­chen Samm­lung als unzu­rei­chend ein­ge­schätzt“ (P&F 2016/1, S. 4)
In Zukunft soll also nicht mehr nur dann, wenn ein Alt­ei­gen­tü­mer oder des­sen Erben Resti­tu­ti­on for­dern, die Recht­mä­ßig­keit der Besitz­ver­hält­nis­se geprüft wer­den, nein, der gesam­te Bestand aller deut­schen Muse­en, Biblio­the­ken, Archi­ve und „wei­te­rer öffent­li­chen Samm­lung“ wird unter Gene­ral­ver­dacht gestellt und pro­phy­lak­tisch durch­ge­prüft, was ein Pro­jekt von Jahr­zehn­ten sein dürf­te und die Errich­tung einer eige­nen his­to­ri­schen Sub­dis­zi­plin allein schon durch den Arbeits­auf­wand äußer­lich rechtfertigt.

Die gesam­te in unse­ren Muse­en reprä­sen­tier­te Geschich­te ver­engt sich auf die Fra­ge, ob die Expo­na­te zwi­schen 1933 und 1945 recht­mä­ßig den Besitz gewech­selt haben. So erscheint es auf ein­mal frag­wür­dig, ob unse­re Geschich­te auch in der Tat unse­re eige­ne Geschich­te ist. Die Pro­ve­ni­enz­for­schung bringt ein Unbe­ha­gen in unser Ver­hält­nis zu den Muse­ums­stü­cken und lenkt von der rei­chen und schö­nen Geschich­te ab, die sie eigent­lich reprä­sen­tie­ren. Die im Muse­um anwe­sen­de Geschich­te wird mit Geschich­ten der Schuld durchsetzt.

Das ist ganz im Sin­ne der herr­schen­den Poli­tik. Hin­zu kommt eine eigen­tüm­li­che Attrak­ti­vi­tät die­ser Art For­schung für die Geschichts­wis­sen­schaft aus eher unpo­li­ti­schen, sys­tem­im­ma­nen­ten Grün­den. Ange­sichts der Kri­se der Geschichts­wis­sen­schaft ver­spricht die Pro­ve­ni­enz­for­schung Sinn und metho­di­sche Ori­en­tie­rung. Die Fra­ge nach der Her­kunft ist klar, ein­fach, hand­lich: Etwas zum Fest­hal­ten wie das Aus­stel­lungs­stück. Mag man auch nicht mehr mit Ran­ke­scher Nai­vi­tät bean­spru­chen kön­nen, zu zei­gen, wie es wirk­lich gewe­sen ist, so soll man doch wenigs­tens zei­gen kön­nen, wer etwas zu Recht oder zu Unrecht beses­sen hat. Die Pro­ven­zi­enz­for­schung ver­heißt den unter Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit lei­den­den his­to­ri­schen Wis­sen­schaft metho­di­sche Erlö­sung und gibt, als wäre das nicht genug, auch noch einen hoch­mo­ra­li­schen Sinn dazu, von den För­der­gel­dern ganz zu schweigen.

Ange­sichts eines solch ver­lo­cken­den Ange­bots mögen auch gestan­de­ne His­to­ri­ker dar­über hin­weg­se­hen, daß die Fra­ge nach der Recht­mä­ßig­keit der Erwer­bung zwi­schen 1933 und 1945 die Kom­ple­xi­tät und Offen­heit wis­sen­schaft­li­cher Fra­ge­stel­lun­gen ver­mis­sen läßt. Es han­delt sich um eine bana­le Fra­ge­stel­lung, die, wenn es not­wen­dig wird, die Poli­zei und die Gerich­te beschäf­ti­gen soll­te, aber nicht eine Geschichts­wis­sen­schaft, die den Anspruch erhebt, eine Wis­sen­schaft zu sein und kein bil­li­ger Büt­tel der Poli­tik. Indem die Geschichts­wis­sen­schaft die­ses sacri­fi­cum intellec­tua­lis bereit­wil­lig erbringt und das, was For­schung sein soll­te, auf die Ermitt­lung von Schuld redu­ziert, stellt sie unter Beweis, daß sie trotz aller Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung ihrer his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung immer noch nicht gerecht wird und gera­de das, was es aus der Geschich­te zu ler­nen gäbe, nicht gelernt hat.

Hans-Tho­mas Tillschneider