7. Juni 2020

Die falsche Bescheidenheit

Sie sind gege­ben unter hun­dert Quäler

und, ange­schrien von jeder Stun­de Schlag,

krei­sen sie ein­sam um die Hospitäler

und war­ten angst­voll auf den Einlaßtag.

(R.M.Rilke, Von der Armut und vom Tode)

 

In den Krei­sen der kon­ser­va­ti­ven Oppo­si­ti­on, die über die aktu­el­le Lage nach­den­ken, hat sich eine Deu­tung der Coro­na-Kri­se ein­ge­schli­chen, die in den Beschrän­kun­gen des öffent­li­chen – und nicht nur öffent­li­chen – Lebens eine Bestä­ti­gung der eige­nen Ansich­ten erkennt. Jüngs­tes Bei­spiel: Hei­no Bos­sel­mann ver­fällt in der Sezes­si­on in ein Lob der Beschei­den­heit und des “Mimimum(s) im Ver­brauch” (https://sezession.de/62996/wumms). Haben wir nicht die Ent­gren­zungs­ideo­lo­gien als die reins­te Form der Ideo­lo­gie unse­rer Fein­de aus­ge­macht, und was wider­spricht einer Ent­gren­zung mehr als die viel­fäl­ti­gen Begren­zun­gen, nie­der­legt in den Coro­na-Ver­ord­nun­gen der Exe­ku­ti­ve? Maß­hal­ten, Beschei­den­heit, Sich-Zurück­neh­men, sind das nicht alles genu­in kon­ser­va­ti­ve Hal­tun­gen? Wes­halb also nicht mit­ma­chen oder zumin­dest das Bes­te draus machen? Die Ant­wort ist ein­fach: Es wäre der Ver­such, eine Bewe­gung, die gegen uns gerich­tet ist, in unse­re Bewe­gung umzu­deu­ten. Ein Selbst­be­trug, der Maß­hal­ten mit Ver­küm­me­rung ver­wech­selt und Sich-Zurück­neh­men mit Betro­gen-Wer­den. Es sind schlech­te Zei­ten, das Mim­i­mum im Ver­brauch zu loben.

Legen wir ruhig ein­mal die offi­zi­el­le Coro­na-Ver­si­on zugrun­de, also die Erzäh­lung vom expo­nen­ti­el­len Anstieg der Infi­zier­ten und der dann dro­hen­den Über­las­tung der Behand­lungs­ka­pa­zi­tä­ten mit den dann not­wen­di­gen Ent­schei­dun­gen, wer wei­ter­le­ben darf und wer nicht, die so men­schen­wür­de­wid­rig sein sol­len, daß jedes mate­ri­el­le Opfer gerecht­fer­tigt sein soll, wenn es gilt, der­glei­chen zu ver­mei­den, was dann als die Letzt­be­grün­dung für das gan­ze Sys­tem der Coro­na-Ver­ord­nun­gen her­hal­ten muß. Schon in der Welt die­ser Erzäh­lung lie­ße sich anmer­ken, daß genau genom­men nicht das Virus die tie­fe­re Ursa­che der Kri­se ist, son­dern der Umstand, daß an unse­ren Kran­ken­häu­sern kaum noch freie Kapa­zi­tä­ten vor­han­den sind. Was ist das für ein Gesund­heits­sys­tem, das unter einer etwas hef­ti­ge­ren Grip­pe­wel­le oder viel­leicht einer doch etwas (aber nicht viel) gefähr­li­che­ren Wel­le als nur einer Grip­pe­wel­le zusam­men­zu­bre­chen droht?

Die Zei­ten, in denen längst gene­se­ne Pati­en­ten, die eher an Lan­ge­wei­le als an sonst etwas zu ster­ben droh­ten, von über­vor­sich­ti­gen Onkel-Dok­tor-Typen über­re­det wer­den muß­ten, zur Sicher­heit noch ein paar Tage im Krank­haus zu blei­ben, sind vor­bei. Heu­te tor­keln eilig ver­näh­te und ver­bun­de­ne Kran­ke, die noch im Kran­ken­haus­bett hät­ten blei­ben müs­sen, benom­men nach Hau­se. Jeder kennt Geschich­ten von ver­früht Ent­las­se­nen, die als Not­fäl­le mit Ent­zün­dun­gen, nicht hei­len wol­len­den Wun­den und auf­ge­platz­ten Näh­ten wie­der ein­ge­lie­fert wer­den muß­ten. Selbst in den Laza­ret­ten wäh­rend der Welt­krie­ge hat man sich mehr Zeit gelas­sen. Die Betriebs­wirt­schafts­leh­re tri­um­phiert über die Medi­zin. Der Betrieb strebt nicht nach Hei­lung, son­dern nach Aus­las­tung. Das Hei­len ist nur noch Mit­tel zum Zweck, Zweck ist die opti­ma­le Nut­zung der Kapa­zi­tä­ten. Maxi­ma­ler Gewinn mit mini­ma­lem Ein­satz ist die Maxi­me, die alles regiert.  So wird klar: Die Coro­na-Ver­ord­nun­gen geben nur vor, ihr Zweck bestün­de dar­in, Men­schen zu schüt­zen. In Wahr­heit schüt­zen sie ein Sys­tem, das auf der rest­lo­sen Ver­wer­tung des Men­schen, auf der Reduk­ti­on jedes Rei­bungs­ver­lus­tes, der Opti­mie­rung jedes Ablaufs und der Maxi­mie­rung der Aus­las­tung jeder Kapa­zi­tät beruht.

Ein Gesund­heits­sys­tem, das noch ein Gesund­heits­sys­tem ist, dient nicht dem Pro­fit, son­dern der Volks­ge­sund­heit und hält für alle Fäl­le, sei­en es Natur­ka­ta­stro­phen, Ter­ror­an­schlä­ge oder Epi­de­mien, freie Kapa­zi­tä­ten vor. Ein Kran­ken­haus ist kein Char­ter­flug, der bis auf den letz­ten Sitz aus­ge­bucht sein muß. Genau dazu aber ist es unter der Dik­ta­tur eines glo­ba­len Inves­ti­ti­ons­sys­tem gewor­den, und genau das ist der eigent­li­che Sinn der offi­zi­el­len Coro­na-Erzäh­lung. Zu vie­le dür­fen sich nicht erlau­ben, auf ein­mal zu ster­ben. Die Mas­se mit Mund­schutz soll Extra­run­den vor den Hos­pi­tä­lern dre­hen und artig auf den Ein­laß­tag war­ten. Die Inten­si­tät der Aus­beu­tung hat eine Stu­fe erreicht, wo Zeit und Raum auf immer enge­re Krei­se schrump­fen. Die Reduk­ti­on des Radi­us geht ein­her mit dem Ver­lust der Spon­ta­ni­tät. Jeder Grup­pen­spa­zier­gang muß ange­mel­det wer­den. Wir müs­sen auf Schritt und Tritt bere­chen­ba­rer wer­den, weil sich so das Maxi­mum an Pro­fit kal­ku­lie­ren und aus uns her­aus­be­rech­nen läßt. Das ist nichts, was mit dem Coro­na-Ver­ord­nun­gen in die Welt kam, son­dern etwas, was sich in der longue durée voll­zieht und sich an den Ver­schär­fun­gen aller Ord­nungs­be­stim­mun­gen über Jahr­zehn­te hin­weg able­sen läßt.

Wir müs­sen, bevor wir einen Ofen in unser Haus set­zen, um Erlaub­nis bit­ten, brau­chen Waf­fen­schei­ne für Spiel­zeug­pis­to­len, dür­fen nir­gend­wo mehr rau­chen, und wenn wir mehr als 20 Kilo­me­ter pro Stun­de zu schnell fah­ren, ver­lie­ren wir sofort den Füh­rer­schein. Was vor 30 Jah­ren ein Dum­mer-Jun­gen-Streich war, ist nun eine mehr­fa­che Straf­tat. Jede Lebens­äu­ße­rung wird auf ein Mini­mum redu­ziert. Alles muß im vor­aus gebucht, reser­viert, bean­tragt, geplant werden.

Die Koro­na-Ver­ord­nun­gen sind eine Ein­übung in eine neue Dimen­si­on und neue Qua­li­tät des Pro­fit­sys­tems, ein Kapi­ta­lis­mus der Unfrei­heit. Wir sol­len ler­nen, mit weni­ger zufrie­den sein: Weni­ger Frei­heit, weni­ger Geld, weni­ger Leben. Der Anlaß ist belie­big, wes­halb alle neu­en Nach­wei­se gerin­ger Sterb­lich­keit und mäßi­ger Gefähr­lich­keit des Virus die Exe­ku­ti­ve nicht anfech­ten und an den Ver­ant­wort­li­chen abper­len. Das Gan­ze ist eine Tro­cken­übung. Wir exer­zie­ren die Reduk­ti­on unse­rer Lebens­äu­ße­run­gen. Die­ses Weni­ger bringt uns aber auf der ande­ren Sei­te kein Mehr, der redu­zier­te Kon­sum bringt kei­ne Ent­las­tung, im Gegen­teil. Wir müs­sen ler­nen, noch mehr Pro­fit abzu­wer­fen, indem wir bei redu­zier­ten Ansprü­chen das Glei­che leis­ten. Ein­fa­cher gesagt: Die Prei­se wer­den stei­gen, nicht aber die Werte.

Die Ver­haus­schwei­nung des Men­schen wäre der fal­sche Begriff, denn ein Schwein, auch ein Haus­schwein, ist eine ver­schwen­de­ri­sche Lebens­äu­ße­rung. Von statt­li­cher Lei­bes­fül­le ver­tilgt es Unmen­gen, hin­ter­läßt Unmen­gen und erzeugt einen bes­tia­li­schen Gestank. Wir haben es dage­gen eher mit einer Ver­amei­sung zu tun. Leben ist Ver­schwen­dung und Rei­bungs­ver­lust. So ist es nur fol­ge­rich­tig, daß der Maxi­mie­rung des Pro­fits die Mini­mie­rung des Lebens ent­spricht. Wir wer­den auf Minia­tur­for­ma­te redu­ziert, abge­speist mit win­zi­gen und abge­schwäch­ten Ratio­nen, die uns abge­wöh­nen sol­len, was ech­tes Leben bedeu­tet. Das ist auch der Sinn des Mund­schut­zes: Er ver­hin­dert ein vita­les, sau­er­stoff­tan­ken­des Durch­at­men, und zwingt uns, im eige­nen Atmen zu hecheln, so lan­ge, bis es irgend­wann vor­bei ist.

Hans-Tho­mas Tillschneider