Ungarn, Du hast es besser!
Ein Vergleich, der alles sagt: In der ungarischen Kleinstadt Tapolca am Plattensee steht auf einem kleinen Platz im Schatten dichter Bäume eine im Jahr 2000 errichtete mannshohe Statue vom Stephan dem Heiligen, Missionar, erster König der Ungarn und Nationalheiliger. Geboren 969, gestorben 1038. Auch in Deutschland finden wir Statuen von Heinrich, dem ersten König der Deutschen, doch sie stammen aus dem letzten und vorletzten Jahrhundert. Eine Unvorstellbarkeit, daß in dem Deutschland unserer Tage auf einem öffentlichen Platz eine Statue errichtet würde, die an Heinrich I erinnert. Dabei wäre es doch eine Selbstverständlichkeit. Deutschland aber ist ein Land, in dem das Selbstverständliche unvorstellbar geworden ist. Gemacht worden, um genau zu sein. Zu jedem Gemacht-werden freilich gehört auch ein Mit-sich-machen-lassen, um wiederum ganz genau zu sein.
Zweite Szene: Auf Burg Schimeck, zu deren Geschichte eine Tafel erklärt, daß sie während der Türkenkriege mehrmals belagert, doch nie erobert wurde, hängt in einem Ausstellungsraum eine Karte von Ungarn in den Grenzen von 1910. Ohne Kommentar. Also kein Exponat. Eher ein Dekor. Aber wahrscheinlich doch mehr: Eine Erinnerung. Meine Geburtsstadt Tembeschurg, auf Ungarisch Temesvar, lag damals noch tief in Ungarn. Und auch das wieder unvorstellbar: Daß heute bei uns in Deutschland irgendwo in einem öffentlichen Gebäude ohne Kommentar eine Karte des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1871 hängt. Dabei geht von all dem keine Aggressivität aus. Die Karte ist keine Aufforderung zum Überfall auf Rumänien und zur Rückeroberung der Gebiete. Was sich hier ausspricht, ist ein ruhiges, in sich ruhendes Bewußtsein vergangener, damit aber auch durchlebter Größe, aufgehoben in der Gegenwart, also Teil der eigenen Identität.
Auf der Burg herrscht ein Betrieb, wie er auf der größeren und besser erhaltenen Burg Querfurt noch nicht vorgekommen ist. An einem gewöhnlichen Werktag in den Sommerferien quillt der Innenhof über. Kinderwägen und das Gejauchze der Kleinkinder sind allgegenwärtig. Es zieht das Volk zu den Burgen, ein Volk aus normalen Familien, von denen jede mehrere Kinder zählt. Ein Hintergrund wie wohl in jenem Werbefilm, mit dem sich die ungarische Stadt Stuhlweißenburg um den Titel einer europäischen Kulturhauptstadt 2023 beworben hatte und letztlich unterlag, weil nach Meinung der EU-Bürokraten in diesem Film zu viele fröhliche weiße Menschen, zu viele Kreuze und Kirchen und zu wenige Migranten zu sehen waren.
Die Burg selbst wurde, nachdem sie während der sozialistischen Zeit dem Verfall preisgegeben war, nicht nur erforscht und gesichert, sie wurde in weiten Teilen regelrecht wiederaufgebaut. Dachstühle, aufwendige Holzkonstruktionen nach historischen Modellen und im magyarischen Stil, wurden errichtet, ganze Mauern rekonstruiert und stellenweise, wo historische Notizen fehlten, wohl auch nach Gutdünken der Architekten ergänzt und weitergebaut, das alles vielleicht nicht ganz getreu zum Vorbild einer bestimmten Epoche, aber auch, ohne die historische Substanz zu verletzen. Die Burg wurde nicht nur wiederaufgebaut; man hat sie weitergebaut, hat auf ihr aufgebaut.
Überall begegnet einem der Wille, die Tradition fortzusetzen, weiter durch die Geschichte zu gehen, den Faden dieses Volkes nicht abreißen zu lassen. Die ungarische Fahne ist allgegenwärtig bis hin zu den Trivialisierungen des Alltags. Auf Schritt und Tritt, vom Eisbecherfähnchen bis zum Anhänger, der am Rückspiegel baumelt, begegnen einem die Farben rot, weiß und grün. Daß an Amtsgebäuden die Fahne neben dem Sternenkranz hängt, stört kaum. Denn jedem ist klar: Über dieses Volk hat Brüssel keine Gewalt. Man nimmt von Brüssel, was im eigenen Interesse liegt; die Belehrungen über „Pluralität“ und „Diversität“ aber gehen zum einen Ohr herein und zum anderen wieder heraus. Glückwunsch! Das ist die Art, mit EU-Apparatschiks umzugehen.
Wir wohnen bei Parteifreunden, die sich am Plattensee ein Haus gekauft haben und eine Wohnung als Ferienwohnung vermieten. Das haben viele Deutsche getan. Die Ungarn sehn es gern. Keine einzige Feindseligkeit habe ich während der Zeit dort erlebt, sondern, im Gegenteil, Wohlwollen, einladende Gesten und Respekt. Allerdings ist mir auch kein einziger sog. Flüchtling aus Nahost dort begegnet. EU hin oder her, die Ungarn nehmen nur auf, wer ihnen nützt und lassen sich nicht von pseudohumanitärem Geschwätz treiben. Beneidenswerte Verhältnisse. Ungarn, Du hast es besser!
Hans-Thomas Tillschneider