Was die Wahlen bedeuten
Die Bundestagswahl, die Wahl zum Landtag von Mecklenburg-Vorpommern und die Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin am vergangenen Sonntag, aber auch die Wahl zum Landtag von Sachsen-Anhalt vor drei Monaten und davor die Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg haben gezeigt: Während die AfD im Osten bei geringen Verlusten oder leichten Zugewinnen stabil bleibt, stürzt die AfD im Westen ab. Die AfD verlor bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg im März 2021 mehr als ein Drittel der Stimmen, in Berlin im September 2021 wurde ihr Ergebnis bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus gar halbiert – eine vernichtende Bilanz, zumal speziell Berlin mit dem Ostteil der Stadt über Gebiete verfügt, in denen die AfD traditionell stark ist.
Die AfD in den Flächenländern im Osten hat zwar auch nicht dazu gewonnen, sie hat aber das Vertrauen, das die Wähler vor vier und fünf Jahren in sie gesetzt haben, auch nicht enttäuscht. Im Westen haben unsere Verbände weite Teile der Wählerschaft von 2016 und 2017 enttäuscht und verloren. Das ist ein seit Anfang des Jahres immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven bestätigtes Faktum.
Um dieses Faktum zu deuten, braucht es keine demographische Geheimwissenschaft. 2016 und 2017 gingen die gewaltigen Überraschungserfolge der AfD in Ost wie West mit einer gestiegenen Wahlbeteiligung einher. D.h. die Nichtwähler, die bis dahin gar nicht mehr zu den Wahlen gingen, weil sie – ganz zu Recht – im etablierten Parteienspektrum keine Alternative sahen, gingen wegen der AfD wieder zur Wahl. Die AfD gab ihnen Hoffnung, daß gegen den unerträglichen Einheitsbrei der Altparteien nun eine Partei auf den Plan treten würde, die Gegenstandpunkte zur gleichgeschalteten Einheitsmeinung vertritt und die Interessen des deutschen Volks wieder in den Vordergrund rückt. Altgediente Wahlhelfer aus Bad Dürrenberg im Saalekreis in Sachsen-Anhalt haben mir 2016 berichtet, bei der Landtagswahl Bürgern begegnet zu sein, die noch nie in ihrem Leben ein Fuß in ein Wahllokal gesetzt haben. Zu den Nichtwählern kamen jene Wähler, die von einer Altpartei, meist der CDU oder der Linken, zur AfD gewechselt sind und sich mit diesem Schritt grundsätzlich von den Altparteien abgewendet haben, weil ihnen die Augen aufgegangen sind und sie erkannt haben, daß diese Partei ihre Interessen nicht mehr vertreten. Es sind keine Wechselwähler, sondern Abwendungswähler. Sie werden eher zu Nichtwählern, als daß sie wieder eine Altpartei wählen.
Die Skandalisierungen und Provokationen, die großen Pegida-Demonstrationen in Dresden und der Sturz des bieder-langweiligen Bernd Lucke – all das hat die Nichtwähler und die Abwendungswähler mobilisiert und uns den größten Erfolg einer Parteineugründung in der politischen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beschert. 2016 und 2017 wurde die AfD nicht trotz, sondern gerade wegen ihres Rufs gewählt, eine rebellische, politische unkorrekte Partei zu sein, die echte Opposition zu allen Altparteien verspricht. Wir sind die Partei, die sich so sehr von allen Altparteien unterscheidet, daß angesichts dieses Unterschiedes die Unterschiede zwischen den Altparteien lächerlich werden. Wir sind die ganz große, die grundsätzliche Alternative.
Die Wahrnehmung der Massen ist grob. Die wenigsten Wähler lesen Parteiprogramme und prüfen die Lebensläufe von Kandidaten. Sie nehmen eher ein Grundrauschen war, das Getöse der Medien und Tonlagen, die wir in unseren öffentlichen Reden anschlagen. Diese Stimmung ist träge und verschwommen. Man schaut nicht genau hin. Teilweise wurde so auch im Osten unfähiges Personal in die Parlamente gespült, weil sogar der sprichwörtliche blaue Besenstiel gewählt worden wäre. Sie alle wurden getragen von der starken und groben Erwartung, anstatt der üblichen Scheinopposition aus den Altparteien eine richtige Opposition, eine echte Alternative in die Parlamente zu wählen.
Diese Erwartung mag im Westen schwächer ausgeprägt gewesen sein als im Osten, was man daran sieht, daß die AfD bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg 2016 auch nur 15,1% erzielt hat und nicht 24,3% wie in Sachsen-Anhalt. Das gleiche Rezept aber, das uns im Osten 24,3 % beschert hat, hat uns im Westen zumindest solide 10% + x – Ergebnisse verschafft. Sogar im braven Rheinland-Pfalz wählten 2016 12,6% die AfD.
Im Westen wie im Osten hat das Image einer Partei verfangen, die nach dem Sturz von Lucke von den Medien verteufelt wurde. Nach der Logik, wonach der Feind des Feindes zum Freund wird, haben uns all jene gewählt, die erkannt haben, daß die Altparteien nur noch Loyalität zu einer Politik organisieren sollen, die in Wahrheit gegen die Interessen der Bürger gerichtet ist. Das Mißtrauen gegenüber den Leitmedien hat in einer negativen Rezeptionskultur dazu geführt, daß jeder, der dort gescholten wurde, interessant war, und jeder, der von dorther gelobt wurde, eben dadurch verdächtig wurde. Das war die Grundstruktur des AfD-Erfolgs im Osten wie im Westen. Was im Osten zum Erfolg führt, führt auch im Westen zum Erfolg, nur nicht zu einem ganz so starken Erfolg. Der Effekt besteht hier wie dort, er kommt nur etwas gedämpft zur Geltung.
Während nun die AfD im Osten diesem Erwartungshorizont einer grundsätzlichen Opposition zu allen Altparteien entsprochen und also das geliefert hat, was diejenigen, die sie gewählt haben, bestellt haben, hat die AfD im Westen diese Erwartung durch einen Kurs, der auf Anpassung an die Altparteien, besonders die CDU, gerichtet war, enttäuscht. Ungerechtfertigte Parteiausschlüsse, Nachplappern des Altparteienjargon, Miteinsteigen in die Distanzierungspanik des Mainstreams, Mißachtung gegenüber Bürgerbewegungen wie Pegida oder der Querdenkerbewegung und bei alldem ein Grundton der Relativierung eigener Standpunkte und der Kompromißbereitschaft – das ist, was unsere Wähler zweifeln läßt, ob wir die grundsätzliche Alternative zu allen Altparteien sind, als die sie uns gewählt haben. Die AfD im Westen hat die falschen Signale gesetzt.
Die Parteiführung steht in vielen westlichen Bundesländern quer zu den Erwartungen der Wähler. Wie Benedikt Kayser in seiner Analyse der Wahlen zur Hamburger Bürgerschaft 2020 gezeigt hat (https://sezession.de/62218/notizen-zur-wahl-in-hamburg-wohin-afd), wurde die AfD dort nicht wegen, sondern der trotz der offiziellen Linie mit 5,3% gerade noch einmal knapp in die Bürgerschaft gewählt. Während einige Führungsfiguren sich von einem Rausschmiß Björn Höckes aus der AfD Erlösung erhoffen und der Chimäre bürgerlich-konservativer Milieus hinterherjagen, die nur noch in der Phantasie und der Erinnerung an bessere Zeiten existieren, wird die AfD auch in Hamburg von Höcke-Fans aus den noch halbwegs bezahlbaren Wohnvierteln gewählt.
Und so zeigt sich erneut: Was im Osten zum Erfolg führt, führt auch im Westen zum Erfolg, nur etwas schwächer. Es führt aber zum Erfolg, und hanebüchen wäre es, anzunehmen, die Konzepte, die im Westen krachend – krachend! – gescheitert sind, könnten im Osten oder im Bund zum Erfolg führen. Wir sollten die Unterschiede in der Wählerschaft zwischen Ost und West nicht überbetonen. Es gibt sie, die beiden Teile Deutschlands sind über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung aber keine verschiedenen Welten mehr.
Die Bürger unseres Landes unterscheiden sich nicht so sehr nach West oder Ost, und ich will auch nicht zu stark nach Milieus unterscheiden, jedenfalls sind das nicht die entscheidenden Unterschiede. Entscheidend ist der politische Erkenntnisstand und, damit zusammenhängend, schlicht der Persönlichkeitstyp. Da gibt es diejenigen, die einen kritischen Geist mit dem richtigen Maß an Unbotmäßigkeit verbinden, das nötig ist, um Erklärungen auch von honorigen Institutionen keinen Glauben mehr zu schenken, wenn sie schlecht sind und nicht überzeugen können. Und es gibt die braven Kinder, die ihre Intelligenz notfalls dem Gehorsam opfern und auch schlechten Erklärungen folgen, wenn sie von den Institutionen kommen, an die das brave Kind glauben will, weil es sonst in Zwiespalt zu sich selbst gerät. Es gibt, kurz gesagt, diejenigen, die den Mut haben, sich ihres eigenen Verstandes bedienen und diejenigen, die dafür zu feige sind. Es gibt beide Typen unter Professoren, Ärzten und Rechtsanwälten, es gibt sie unter Handwerkern und Krankenschwestern, es gibt sie unter Rentnern und Arbeitslosen, es gibt sie in Ost und West.
Unsere Aufgabe ist, den Mutigen in Ost und West ein Angebot zu machen, denen, die sich nicht mehr von den zunehmend absurden und widersprüchlichen Erklärungen einlullen lassen. Und natürlich müssen wir einig sein und im Dezember einen Bundesvorsitzenden wählen, der keinen Krieg mehr gegen die eigene Partei führt. Auch dann ist aktuell im Osten wohl nicht mehr als 25 bis 30% und im Westen nicht mehr als 12 bis 15% möglich. Das ist unter den gegenwärtigen Umständen der maximale Erfolg. Es wäre aber ein Fehler, darauf zu reagieren, indem wir uns ändern und uns den Umständen anpassen, wir sind schließlich angetreten, die Umstände zu ändern, nicht die Umstände auf uns abfärben zu lassen. Änderung hieße Anpassung an die Unaufgeklärten. Unsere Aufgabe aber ist nicht, einen Kompromiß mit dem Irrtum zu schließen, unser Geschäft ist die Aufklärung. Wir müssen uns festigen, besser werden und die wahre Alternative bleiben, die wir sind, so lange, bis die Schädlichkeit und die Widersprüche der offiziellen Politik so offen zutage treten, daß es nicht mehr viel an politischer Intelligenz braucht, um das zu erkennen, und nicht mehr viel Mut, um sich davon abzuwenden. Wir müssen abwarten, arbeiten und aufklären. Wir müssen professioneller werden, was nicht heißt, daß wir Standpunkte relativieren, sondern diese Standpunkte besser begründen. Wenn wir professioneller werden, werden wir nicht ungefährlicher, wir werden gefährlicher für die Altparteien. Der größte Fehler aber wäre es, aus Ungeduld Standpunkte aufzugeben und uns nach dem Geschmack derer zu richten, die noch nicht den nötigen Abstand zu den Altparteien und ihren Medien haben. Wir wären dann keine grundsätzliche Alternative mehr, und das wäre auch nur eine Modalität der Niederlage, denn wenn die AfD keine Alternative ist, bedeuten auch die besten Wahlergebnisse nichts mehr. Ganz abgesehen davon, daß sie uns dann ferner lägen als je und uns niemand mehr wählen würde.
Hans-Thomas Tillschneider