30. September 2021

Was die Wahlen bedeuten

Die Bun­des­tags­wahl, die Wahl zum Land­tag von Meck­len­burg-Vor­pom­mern und die Wahl zum Abge­ord­ne­ten­haus von Ber­lin am ver­gan­ge­nen Sonn­tag, aber auch die Wahl zum Land­tag von Sach­sen-Anhalt vor drei Mona­ten und davor die Land­tags­wah­len in Rhein­land-Pfalz und Baden-Würt­tem­berg haben gezeigt: Wäh­rend die AfD im Osten bei gerin­gen Ver­lus­ten oder leich­ten Zuge­win­nen sta­bil bleibt, stürzt die AfD im Wes­ten ab. Die AfD ver­lor bei den Land­tags­wah­len in Rhein­land-Pfalz und Baden-Würt­tem­berg im März 2021 mehr als ein Drit­tel der Stim­men, in Ber­lin im Sep­tem­ber 2021 wur­de ihr Ergeb­nis bei den Wah­len zum Abge­ord­ne­ten­haus gar hal­biert – eine ver­nich­ten­de Bilanz, zumal spe­zi­ell Ber­lin mit dem Ost­teil der Stadt über Gebie­te ver­fügt, in denen die AfD tra­di­tio­nell stark ist.
Die AfD in den Flä­chen­län­dern im Osten hat zwar auch nicht dazu gewon­nen, sie hat aber das Ver­trau­en, das die Wäh­ler vor vier und fünf Jah­ren in sie gesetzt haben, auch nicht ent­täuscht. Im Wes­ten haben unse­re Ver­bän­de wei­te Tei­le der Wäh­ler­schaft von 2016 und 2017 ent­täuscht und ver­lo­ren. Das ist ein seit Anfang des Jah­res immer wie­der aus unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven bestä­tig­tes Faktum.
Um die­ses Fak­tum zu deu­ten, braucht es kei­ne demo­gra­phi­sche Geheim­wis­sen­schaft. 2016 und 2017 gin­gen die gewal­ti­gen Über­ra­schungs­er­fol­ge der AfD in Ost wie West mit einer gestie­ge­nen Wahl­be­tei­li­gung ein­her. D.h. die Nicht­wäh­ler, die bis dahin gar nicht mehr zu den Wah­len gin­gen, weil sie – ganz zu Recht – im eta­blier­ten Par­tei­en­spek­trum kei­ne Alter­na­ti­ve sahen, gin­gen wegen der AfD wie­der zur Wahl. Die AfD gab ihnen Hoff­nung, daß gegen den uner­träg­li­chen Ein­heits­brei der Alt­par­tei­en nun eine Par­tei auf den Plan tre­ten wür­de, die Gegen­stand­punk­te zur gleich­ge­schal­te­ten Ein­heits­mei­nung ver­tritt und die Inter­es­sen des deut­schen Volks wie­der in den Vor­der­grund rückt. Alt­ge­dien­te Wahl­hel­fer aus Bad Dür­ren­berg im Saa­le­kreis in Sach­sen-Anhalt haben mir 2016 berich­tet, bei der Land­tags­wahl Bür­gern begeg­net zu sein, die noch nie in ihrem Leben ein Fuß in ein Wahl­lo­kal gesetzt haben. Zu den Nicht­wäh­lern kamen jene Wäh­ler, die von einer Alt­par­tei, meist der CDU oder der Lin­ken, zur AfD gewech­selt sind und sich mit die­sem Schritt grund­sätz­lich von den Alt­par­tei­en abge­wen­det haben, weil ihnen die Augen auf­ge­gan­gen sind und sie erkannt haben, daß die­se Par­tei ihre Inter­es­sen nicht mehr ver­tre­ten. Es sind kei­ne Wech­sel­wäh­ler, son­dern Abwen­dungs­wäh­ler. Sie wer­den eher zu Nicht­wäh­lern, als daß sie wie­der eine Alt­par­tei wählen.
Die Skan­da­li­sie­run­gen und Pro­vo­ka­tio­nen, die gro­ßen Pegi­da-Demons­tra­tio­nen in Dres­den und der Sturz des bie­der-lang­wei­li­gen Bernd Lucke – all das hat die Nicht­wäh­ler und die Abwen­dungs­wäh­ler mobi­li­siert und uns den größ­ten Erfolg einer Par­tei­neu­grün­dung in der poli­ti­schen Geschich­te der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land beschert. 2016 und 2017 wur­de die AfD nicht trotz, son­dern gera­de wegen ihres Rufs gewählt, eine rebel­li­sche, poli­ti­sche unkor­rek­te Par­tei zu sein, die ech­te Oppo­si­ti­on zu allen Alt­par­tei­en ver­spricht. Wir sind die Par­tei, die sich so sehr von allen Alt­par­tei­en unter­schei­det, daß ange­sichts die­ses Unter­schie­des die Unter­schie­de zwi­schen den Alt­par­tei­en lächer­lich wer­den. Wir sind die ganz gro­ße, die grund­sätz­li­che Alternative.
Die Wahr­neh­mung der Mas­sen ist grob. Die wenigs­ten Wäh­ler lesen Par­tei­pro­gram­me und prü­fen die Lebens­läu­fe von Kan­di­da­ten. Sie neh­men eher ein Grund­rau­schen war, das Getö­se der Medi­en und Ton­la­gen, die wir in unse­ren öffent­li­chen Reden anschla­gen. Die­se Stim­mung ist trä­ge und ver­schwom­men. Man schaut nicht genau hin. Teil­wei­se wur­de so auch im Osten unfä­hi­ges Per­so­nal in die Par­la­men­te gespült, weil sogar der sprich­wört­li­che blaue Besen­stiel gewählt wor­den wäre. Sie alle wur­den getra­gen von der star­ken und gro­ben Erwar­tung, anstatt der übli­chen Schei­n­op­po­si­ti­on aus den Alt­par­tei­en eine rich­ti­ge Oppo­si­ti­on, eine ech­te Alter­na­ti­ve in die Par­la­men­te zu wählen.
Die­se Erwar­tung mag im Wes­ten schwä­cher aus­ge­prägt gewe­sen sein als im Osten, was man dar­an sieht, daß die AfD bei der Land­tags­wahl in Baden-Würt­tem­berg 2016 auch nur 15,1% erzielt hat und nicht 24,3% wie in Sach­sen-Anhalt. Das glei­che Rezept aber, das uns im Osten 24,3 % beschert hat, hat uns im Wes­ten zumin­dest soli­de 10% + x – Ergeb­nis­se ver­schafft. Sogar im bra­ven Rhein­land-Pfalz wähl­ten 2016 12,6% die AfD.
Im Wes­ten wie im Osten hat das Image einer Par­tei ver­fan­gen, die nach dem Sturz von Lucke von den Medi­en ver­teu­felt wur­de. Nach der Logik, wonach der Feind des Fein­des zum Freund wird, haben uns all jene gewählt, die erkannt haben, daß die Alt­par­tei­en nur noch Loya­li­tät zu einer Poli­tik orga­ni­sie­ren sol­len, die in Wahr­heit gegen die Inter­es­sen der Bür­ger gerich­tet ist. Das Miß­trau­en gegen­über den Leit­me­di­en hat in einer nega­ti­ven Rezep­ti­ons­kul­tur dazu geführt, daß jeder, der dort geschol­ten wur­de, inter­es­sant war, und jeder, der von dort­her gelobt wur­de, eben dadurch ver­däch­tig wur­de. Das war die Grund­struk­tur des AfD-Erfolgs im Osten wie im Wes­ten. Was im Osten zum Erfolg führt, führt auch im Wes­ten zum Erfolg, nur nicht zu einem ganz so star­ken Erfolg. Der Effekt besteht hier wie dort, er kommt nur etwas gedämpft zur Geltung.
Wäh­rend nun die AfD im Osten die­sem Erwar­tungs­ho­ri­zont einer grund­sätz­li­chen Oppo­si­ti­on zu allen Alt­par­tei­en ent­spro­chen und also das gelie­fert hat, was die­je­ni­gen, die sie gewählt haben, bestellt haben, hat die AfD im Wes­ten die­se Erwar­tung durch einen Kurs, der auf Anpas­sung an die Alt­par­tei­en, beson­ders die CDU, gerich­tet war, ent­täuscht. Unge­recht­fer­tig­te Par­tei­aus­schlüs­se, Nach­plap­pern des Alt­par­tei­en­jar­gon, Mit­ein­stei­gen in die Distan­zie­rungs­pa­nik des Main­streams, Miß­ach­tung gegen­über Bür­ger­be­we­gun­gen wie Pegi­da oder der Quer­den­ker­be­we­gung und bei all­dem ein Grund­ton der Rela­ti­vie­rung eige­ner Stand­punk­te und der Kom­pro­miß­be­reit­schaft – das ist, was unse­re Wäh­ler zwei­feln läßt, ob wir die grund­sätz­li­che Alter­na­ti­ve zu allen Alt­par­tei­en sind, als die sie uns gewählt haben. Die AfD im Wes­ten hat die fal­schen Signa­le gesetzt.
Die Par­tei­füh­rung steht in vie­len west­li­chen Bun­des­län­dern quer zu den Erwar­tun­gen der Wäh­ler. Wie Bene­dikt Kay­ser in sei­ner Ana­ly­se der Wah­len zur Ham­bur­ger Bür­ger­schaft 2020 gezeigt hat (https://sezession.de/62218/notizen-zur-wahl-in-hamburg-wohin-afd), wur­de die AfD dort nicht wegen, son­dern der trotz der offi­zi­el­len Linie mit 5,3% gera­de noch ein­mal knapp in die Bür­ger­schaft gewählt. Wäh­rend eini­ge Füh­rungs­fi­gu­ren sich von einem Raus­schmiß Björn Höckes aus der AfD Erlö­sung erhof­fen und der Chi­mä­re bür­ger­lich-kon­ser­va­ti­ver Milieus hin­ter­her­ja­gen, die nur noch in der Phan­ta­sie und der Erin­ne­rung an bes­se­re Zei­ten exis­tie­ren, wird die AfD auch in Ham­burg von Höcke-Fans aus den noch halb­wegs bezahl­ba­ren Wohn­vier­teln gewählt.
Und so zeigt sich erneut: Was im Osten zum Erfolg führt, führt auch im Wes­ten zum Erfolg, nur etwas schwä­cher. Es führt aber zum Erfolg, und hane­bü­chen wäre es, anzu­neh­men, die Kon­zep­te, die im Wes­ten kra­chend – kra­chend! – geschei­tert sind, könn­ten im Osten oder im Bund zum Erfolg füh­ren. Wir soll­ten die Unter­schie­de in der Wäh­ler­schaft zwi­schen Ost und West nicht über­be­to­nen. Es gibt sie, die bei­den Tei­le Deutsch­lands sind über 30 Jah­re nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung aber kei­ne ver­schie­de­nen Wel­ten mehr.
Die Bür­ger unse­res Lan­des unter­schei­den sich nicht so sehr nach West oder Ost, und ich will auch nicht zu stark nach Milieus unter­schei­den, jeden­falls sind das nicht die ent­schei­den­den Unter­schie­de. Ent­schei­dend ist der poli­ti­sche Erkennt­nis­stand und, damit zusam­men­hän­gend, schlicht der Per­sön­lich­keits­typ. Da gibt es die­je­ni­gen, die einen kri­ti­schen Geist mit dem rich­ti­gen Maß an Unbot­mä­ßig­keit ver­bin­den, das nötig ist, um Erklä­run­gen auch von hono­ri­gen Insti­tu­tio­nen kei­nen Glau­ben mehr zu schen­ken, wenn sie schlecht sind und nicht über­zeu­gen kön­nen. Und es gibt die bra­ven Kin­der, die ihre Intel­li­genz not­falls dem Gehor­sam opfern und auch schlech­ten Erklä­run­gen fol­gen, wenn sie von den Insti­tu­tio­nen kom­men, an die das bra­ve Kind glau­ben will, weil es sonst in Zwie­spalt zu sich selbst gerät. Es gibt, kurz gesagt, die­je­ni­gen, die den Mut haben, sich ihres eige­nen Ver­stan­des bedie­nen und die­je­ni­gen, die dafür zu fei­ge sind. Es gibt bei­de Typen unter Pro­fes­so­ren, Ärz­ten und Rechts­an­wäl­ten, es gibt sie unter Hand­wer­kern und Kran­ken­schwes­tern, es gibt sie unter Rent­nern und Arbeits­lo­sen, es gibt sie in Ost und West.
Unse­re Auf­ga­be ist, den Muti­gen in Ost und West ein Ange­bot zu machen, denen, die sich nicht mehr von den zuneh­mend absur­den und wider­sprüch­li­chen Erklä­run­gen ein­lul­len las­sen. Und natür­lich müs­sen wir einig sein und im Dezem­ber einen Bun­des­vor­sit­zen­den wäh­len, der kei­nen Krieg mehr gegen die eige­ne Par­tei führt. Auch dann ist aktu­ell im Osten wohl nicht mehr als 25 bis 30% und im Wes­ten nicht mehr als 12 bis 15% mög­lich. Das ist unter den gegen­wär­ti­gen Umstän­den der maxi­ma­le Erfolg. Es wäre aber ein Feh­ler, dar­auf zu reagie­ren, indem wir uns ändern und uns den Umstän­den anpas­sen, wir sind schließ­lich ange­tre­ten, die Umstän­de zu ändern, nicht die Umstän­de auf uns abfär­ben zu las­sen. Ände­rung hie­ße Anpas­sung an die Unauf­ge­klär­ten. Unse­re Auf­ga­be aber ist nicht, einen Kom­pro­miß mit dem Irr­tum zu schlie­ßen, unser Geschäft ist die Auf­klä­rung. Wir müs­sen uns fes­ti­gen, bes­ser wer­den und die wah­re Alter­na­ti­ve blei­ben, die wir sind, so lan­ge, bis die Schäd­lich­keit und die Wider­sprü­che der offi­zi­el­len Poli­tik so offen zuta­ge tre­ten, daß es nicht mehr viel an poli­ti­scher Intel­li­genz braucht, um das zu erken­nen, und nicht mehr viel Mut, um sich davon abzu­wen­den. Wir müs­sen abwar­ten, arbei­ten und auf­klä­ren. Wir müs­sen pro­fes­sio­nel­ler wer­den, was nicht heißt, daß wir Stand­punk­te rela­ti­vie­ren, son­dern die­se Stand­punk­te bes­ser begrün­den. Wenn wir pro­fes­sio­nel­ler wer­den, wer­den wir nicht unge­fähr­li­cher, wir wer­den gefähr­li­cher für die Alt­par­tei­en. Der größ­te Feh­ler aber wäre es, aus Unge­duld Stand­punk­te auf­zu­ge­ben und uns nach dem Geschmack derer zu rich­ten, die noch nicht den nöti­gen Abstand zu den Alt­par­tei­en und ihren Medi­en haben. Wir wären dann kei­ne grund­sätz­li­che Alter­na­ti­ve mehr, und das wäre auch nur eine Moda­li­tät der Nie­der­la­ge, denn wenn die AfD kei­ne Alter­na­ti­ve ist, bedeu­ten auch die bes­ten Wahl­er­geb­nis­se nichts mehr. Ganz abge­se­hen davon, daß sie uns dann fer­ner lägen als je und uns nie­mand mehr wäh­len würde.

Hans-Tho­mas Tillschneider