Lest die Russen!
Genauso wie ich vor der Reise nach Rostow noch nie in Rußland war, habe ich bislang auch noch keinen russischen Roman gelesen. Ich wußte, daß Thomas Mann stark von Dostojewski beeinflußt ist, aber es hat mir gereicht, bei Thomas Mann zu bleiben. Irgendwie empfand ich die großen Russen als schwer zugänglich. Sie schreckten mich ab. Das hat sich nun als böses Vorurteil herausgestellt.
In einer Zeit, in der an den Universitäten Dostojewski-Seminare abgesagt werden, um sich von Rußland zu distanzieren, habe ich mir vorgenommen, als Zeichen des Widerstandes gegen die allgemeine Hetze gegen Rußland die Klassiker der russischen Literatur zu lesen. Jetzt, gerade jetzt!
Ich habe nach kurzer Recherche beschlossen, mit Dostojewskis “Schuld und Sühne” in der Übersetzung von Herrmann Röhl zu beginnen. Der erste große Erfolg eines Autors liefert erfahrungsgemäß den besten Einstieg. Und so sollte es kommen: Was als bemühtes Projekt der politischen Solidarität begann, hat sich zur Sucht entwickelt.
Der Roman hat einen unerwarteten Sog. Nach zwei Tagen habe ich ungefähr 200 Seiten zurückgelegt, ziehe mich jede freie Viertelstunde mit meinem Dostojewski zurück und staune immer noch darüber, welch eine handlungsstarke Kriminalgeschichte sich hinter dem monumentalen Titel verbirgt, der in seiner Abstraktheit wohl das Seinige zur Abschreckung beiträgt; und der Roman ist nicht nur handlungsstark, sondern zeichnet sich durch eine Tiefe der Weltbetrachtung aus, die einem die ganze Schönheit des russischen Nationalcharakters näher bringt. Es ist wie eine Reise nach Sankt Petersburg.
Und nicht nur vom russischen Wesen legt der Roman Zeugnis ab. Im Hintergrund kommen immer wieder Verbindungen nach Deutschland zum Vorschein, sei es der Student Rasumichin, der sich über Wasser hält, indem er deutsche populärwissenschaftliche Literatur ins Russische übersetzt, weil dergleichen reißenden Absatz findet, sei es die Randfigur Luisa Iwanonwna, die auf der Polizeiwache “das Russische zwar mit stark deutschem Akzent, aber doch fließend” spricht. Die deutsche Kultur wirkt wie ein ständiger Hintergrund, und damit ist dieser Roman auch ein Roman über das innige deutsch-russische Verhältnis. Ich empfehle, ihn zu lesen!