10. Dezember 2022

Lest die Russen!

Genau­so wie ich vor der Rei­se nach Ros­tow noch nie in Ruß­land war, habe ich bis­lang auch noch kei­nen rus­si­schen Roman gele­sen. Ich wuß­te, daß Tho­mas Mann stark von Dos­to­jew­ski beein­flußt ist, aber es hat mir gereicht, bei Tho­mas Mann zu blei­ben. Irgend­wie emp­fand ich die gro­ßen Rus­sen als schwer zugäng­lich. Sie schreck­ten mich ab. Das hat sich nun als böses Vor­ur­teil herausgestellt.
In einer Zeit, in der an den Uni­ver­si­tä­ten Dos­to­jew­ski-Semi­na­re abge­sagt wer­den, um sich von Ruß­land zu distan­zie­ren, habe ich mir vor­ge­nom­men, als Zei­chen des Wider­stan­des gegen die all­ge­mei­ne Het­ze gegen Ruß­land die Klas­si­ker der rus­si­schen Lite­ra­tur zu lesen. Jetzt, gera­de jetzt!
Ich habe nach kur­zer Recher­che beschlos­sen, mit Dos­to­jew­skis “Schuld und Süh­ne” in der Über­set­zung von Herr­mann Röhl zu begin­nen. Der ers­te gro­ße Erfolg eines Autors lie­fert erfah­rungs­ge­mäß den bes­ten Ein­stieg. Und so soll­te es kom­men: Was als bemüh­tes Pro­jekt der poli­ti­schen Soli­da­ri­tät begann, hat sich zur Sucht entwickelt.
Der Roman hat einen uner­war­te­ten Sog. Nach zwei Tagen habe ich unge­fähr 200 Sei­ten zurück­ge­legt, zie­he mich jede freie Vier­tel­stun­de mit mei­nem Dos­to­jew­ski zurück und stau­ne immer noch dar­über, welch eine hand­lungs­star­ke Kri­mi­nal­ge­schich­te sich hin­ter dem monu­men­ta­len Titel ver­birgt, der in sei­ner Abs­trakt­heit wohl das Sei­ni­ge zur Abschre­ckung bei­trägt; und der Roman ist nicht nur hand­lungs­stark, son­dern zeich­net sich durch eine Tie­fe der Welt­be­trach­tung aus, die einem die gan­ze Schön­heit des rus­si­schen Natio­nal­cha­rak­ters näher bringt. Es ist wie eine Rei­se nach Sankt Petersburg.
Und nicht nur vom rus­si­schen Wesen legt der Roman Zeug­nis ab. Im Hin­ter­grund kom­men immer wie­der Ver­bin­dun­gen nach Deutsch­land zum Vor­schein, sei es der Stu­dent Rasu­mi­chin, der sich über Was­ser hält, indem er deut­sche popu­lär­wis­sen­schaft­li­che Lite­ra­tur ins Rus­si­sche über­setzt, weil der­glei­chen rei­ßen­den Absatz fin­det, sei es die Rand­fi­gur Lui­sa Iwa­nonw­na, die auf der Poli­zei­wa­che “das Rus­si­sche zwar mit stark deut­schem Akzent, aber doch flie­ßend” spricht. Die deut­sche Kul­tur wirkt wie ein stän­di­ger Hin­ter­grund, und damit ist die­ser Roman auch ein Roman über das inni­ge deutsch-rus­si­sche Ver­hält­nis. Ich emp­feh­le, ihn zu lesen!