13. Oktober 2023

Islamwissenschaftler Tillschneider zum Gaza-Krieg: Was sind die Hintergründe?

Der neue Gaza-Krieg und die bru­ta­len Ereig­nis­se erschüt­tern seit Sams­tag den Wes­ten. Man­che Beob­ach­ter sehen in dem neu­en Gewalt­aus­bruch den ver­hee­ren­den Anti­se­mi­tis­mus der Hamas. Der AfD-Poli­ti­ker Dr. Hans-Tho­mas Till­schnei­der betont im FREI­LICH-Inter­view die geo­po­li­ti­schen Dimen­sio­nen und erklärt die Hin­ter­grün­de der Hamas.

13.10.2023 / 10 Minu­ten Lesezeit
FREILICH: Herr Dr. Till­schnei­der, seit Sams­tag­mor­gen ist der Nah­ost­kon­flikt um Isra­el und sei­ne Nach­bar­staa­ten wie­der auf­ge­flammt. Die im Gaza­strei­fen herr­schen­de Hamas-Orga­ni­sa­ti­on hat Isra­el und sei­ne Sicher­heits­kräf­te mit einer Son­der­ope­ra­ti­on über­rascht und zunächst über­rannt. Es kam zu außer­or­dent­lich bru­ta­len Über­grif­fen an israe­li­schen Sol­da­ten und Zivi­lis­ten. Auch wenn es in den ver­gan­ge­nen Jah­ren immer wie­der zu klei­ne­ren gewalt­sa­men Eska­la­tio­nen in der Regi­on gekom­men ist und der Kon­flikt über Jahr­zehn­te exis­tiert, hat die Situa­ti­on seit eini­gen Tagen eine neue Qua­li­tät erreicht. War das vorhersehbar?

Dr. Hans-Tho­mas Till­schnei­der: Eben nicht. Die Regi­on befand sich doch in einem erfolg­rei­chen Frie­dens­pro­zess. Iran und Sau­di-Ara­bi­en haben sich unter chi­ne­si­scher Füh­rung ange­nä­hert. Syri­en hat auf rus­si­sche Initia­ti­ve hin sei­nen Frie­den mit den Golf­staa­ten gemacht, die noch vor weni­gen Jah­ren den isla­mis­ti­schen Ter­ror gegen die syri­sche Regie­rung unter­stützt haben. Auch eine Annä­he­rung zwi­schen Isra­el und wei­te­ren ara­bi­schen Staa­ten, ins­be­son­de­re Sau­di-Ara­bi­en, war zu beob­ach­ten. Am Hori­zont zeich­ne­te sich eine israe­lisch-syri­sche Annä­he­rung ab, und das wäre wirk­lich der Schlüs­sel zur dau­er­haf­ten Befrie­dung der gesam­ten Region.

Der aktu­el­le Kon­flikt wirft aus lächer­lich nich­ti­gem Anlass die­sen Frie­dens­pro­zess um Jahr­zehn­te zurück. Soweit ich weiß, hat die Hamas ihren Angriff mit den Besu­chen des israe­li­schen Sicher­heits­mi­nis­ter Ben-Gvir auf dem Tem­pel­berg begrün­det. Das mag aus­rei­chen, um leicht reiz­ba­re Paläs­ti­nen­ser zu mobi­li­sie­ren. Ich den­ke aber, dass ande­res im Hin­ter­grund steht. Wer hat denn über­haupt kein Inter­es­se dar­an, dass der Nahe Osten unter chi­ne­sisch-rus­si­scher Initia­ti­ve befrie­det wird?

Das klingt auf den ers­ten Blick sehr aben­teu­er­lich! Sie mei­nen wahr­schein­lich die USA. Mit gro­ßer Schlag­kraft, moder­ner Aus­rüs­tung und tak­ti­scher Dis­zi­plin gelang es der Hamas, die ers­ten israe­li­schen Ver­tei­di­gungs­li­ni­en zu über­rum­peln. Beob­ach­ter glau­ben, hin­ter die­ser Akti­on auch exter­ne Akteu­re wie den Iran zu erken­nen. Man­che sehen dar­in sogar einen wei­te­ren Kon­flikt­herd in den aktu­el­len geo­po­li­ti­schen Ver­wer­fun­gen, die der Ukrai­ne-Krieg und die ame­ri­ka­nisch-chi­ne­si­sche Riva­li­tät mit sich brin­gen. Sind also die neu­en krie­ge­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen Isra­el und der Hamas eine neue regio­na­le Aus­prä­gung des geo­po­li­ti­schen Kon­flikts der Groß­mäch­te oder nur ein wei­te­rer Punkt im bestehen­den Nah­ost­kon­flikt? Oder beides?

Die Ver­bin­dun­gen zwi­schen den USA und isla­mis­ti­schen Grup­pie­run­gen sind spä­tes­tens seit dem ers­ten Afgha­ni­stan­krieg und dann den Jugo­sla­wi­en­krie­gen all­ge­mein bekannt und gut doku­men­tiert. Die USA haben Osa­ma bin Laden groß gemacht.

Unter allen ara­bisch-isla­mi­schen Grup­pie­run­gen, die gegen Isra­el kämp­fen, hat die Hamas wie­der­um die mit Abstand bes­ten Ver­bin­dun­gen zu den USA. Die Hamas hat jah­re­lang zusam­men mit den von den USA finan­zier­ten isla­mis­ti­schen Ter­ror­grup­pen in Syri­en gegen Baschar al-Assad gekämpft.

Zugleich haben die USA, vor­sich­tig for­mu­liert, nicht das gerings­te Inter­es­se dar­an, dass der Nahe Osten auf chi­ne­si­sche und rus­si­sche Initia­ti­ve hin befrie­det wird.

Beweis­bar ist so etwas natür­lich nicht, aber wenn ich über die Hin­ter­grün­de der aktu­el­len Aus­ein­an­der­set­zung spe­ku­lie­re, über Moti­ve und Mög­lich­kei­ten, so wür­de ich doch die Ver­mu­tung wagen, dass die USA über ihre klan­des­ti­nen Hamas-Kon­tak­te zumin­dest einen Impuls für den Angriff gege­ben haben könn­ten. Das ist in mei­nen Augen die wahr­schein­lichs­te Erklärung.

Dazu passt ein inter­es­san­tes Video, das zur­zeit im Inter­net kur­siert. In einem Kel­ler­raum lagern gro­ße Men­gen von Infan­te­rie­waf­fen. Der Fil­mer erklärt, wäh­rend er die Waf­fen mit der Kame­ra abgeht, auf Ara­bisch, dass man den ukrai­ni­schen Behör­den sehr dank­bar dafür sein, dass sie bereit waren, die­se Waf­fen zu ver­kau­fen. Die Authen­ti­zi­tät lässt sich natür­lich kaum bewei­sen, es ist aber ein wei­te­res Indiz.

Die USA ver­däch­ti­gen wahr­schein­lich die wenigs­ten. Kom­men wir noch mal zurück auf die Hamas: Die­se ist sehr bru­tal vor­ge­gan­gen. Vie­le Zivi­lis­ten wur­den gefan­gen genom­men und nach Gaza zurück­ge­bracht. Eini­ge Vide­os zei­gen ver­stö­ren­de Sze­nen, in denen Gei­ßeln als Kriegs­beu­te gefei­ert oder die Lei­chen gefal­le­ner israe­li­scher Sol­da­ten geschän­det wer­den. Die Bru­ta­li­tät erin­nert an Zustän­de, wie wir sie aus der akti­ven Zeit des Isla­mi­schen Staa­tes vor eini­gen Jah­ren ken­nen. Las­sen sich bei­de Akteu­re mit­ein­an­der ver­glei­chen? Oder muss die Hamas vor dem Hin­ter­grund des seit der Grün­dung Isra­els andau­ern­den Nah­ost­kon­flikts anders ana­ly­siert und bewer­tet werden?

Der Isla­mi­sche Staat hat einen regel­rech­ten Kult um grau­en­haf­te Hin­rich­tungs­me­tho­den ent­wi­ckelt. Da wur­den Men­schen ertränkt, indem man sie in einem Käfig lang­sam in einen Swim­ming­pool getaucht hat. Da wur­den Men­schen wie Scha­fe geschlach­tet, indem man ihnen die Keh­le ange­schnit­ten und sie zum Aus­blu­ten im Schlacht­haus auf­ge­han­gen hat. Dazu wur­den Koran­re­zi­ta­tio­nen oder reli­giö­se Lie­der ein­ge­spielt. Das waren aus bes­tia­li­scher Fan­ta­sie gebo­re­ne, auf­wen­dig insze­nier­te Gräu­el­ta­ten. Durch den reli­giö­sen Hin­ter­grund könn­te man von Ritu­alt­ö­tun­gen spre­chen. Das waren moder­ne Men­schen­op­fer, gefilmt im Stil von Hollywood.

Die Gewalt, die von der Hamas aus­geht, ist anders struk­tu­riert. Hier sehen wir eine zwar mas­si­ve, aber wenig reflek­tier­te Gewalt als Ergeb­nis spon­ta­ner Ent­hem­mung. Da wer­den Men­schen auf der Stel­le bru­tal tot­ge­schla­gen, da reagie­ren sich aus dem Gefecht kom­men­de Kämp­fer an den Lei­chen der getö­te­ten Fein­de ab, da wird wahl­los auf Zivi­lis­ten geschos­sen, da kommt es zu Ver­ge­wal­ti­gun­gen. Das sind auch alles schänd­li­che Kriegs­ver­bre­chen, die ich nicht ansatz­wei­se recht­fer­ti­gen will. Es ist aber etwas anders als die Gräu­el des IS.

Die Moti­va­ti­on der Hamas-Kämp­fer besteht in einem unbän­di­gen Hass auf israe­li­sche Bür­ger, die pau­schal als Zio­nis­ten bezeich­net wer­den und von denen so vie­le wie mög­lich getö­tet wer­den sol­len. Auf ihrem Tele­gram-Kanal fei­ert die Hamas die stei­gen­de Zahl der israe­li­schen Todes­op­fer wie Akti­en­kur­se oder sport­li­che Rekord­mar­ken. Die­se Bru­ta­li­tät zielt nicht auf die Qua­li­tät des Tötens, son­dern auf die schie­re Quan­ti­tät. Das Ziel ist, so schnell wie mög­lich so vie­le Israe­lis wie mög­lich zu töten. Da man den Staat Isra­el ver­nich­ten will, dazu aber nicht in der Lage ist, ermor­det man wahl­los sei­ne Bür­ger und knallt mas­sen­wei­se Besu­cher eines Musik­fes­ti­vals ab, weil man mit jedem Israe­li ein Stück Isra­el ver­nich­tet. Man könn­te von sym­bo­li­schen Mor­den sprechen.

Vie­le Poli­ti­ker, Jour­na­lis­ten und Kom­men­ta­to­ren zei­gen sich im Netz scho­ckiert über die Ereig­nis­se und soli­da­ri­sie­ren sich mit Isra­el. Sie wun­dern sich aber auch über die offen pro-paläs­ti­nen­si­schen Demons­tra­tio­nen und Äuße­run­gen vor allem mus­li­mi­scher Ein­wan­de­rer. Die AfD hat immer wie­der dar­auf hin­ge­wie­sen, dass mit der Mas­sen­ein­wan­de­rung aus dem Nahen Osten natür­lich auch die dor­ti­gen Kon­flik­te nach Euro­pa getra­gen wer­den. Glau­ben Sie, dass jetzt end­lich anders über mus­li­mi­sche Mas­sen­ein­wan­de­rung gedacht und gespro­chen wird? Wer­den jetzt kon­kre­te Maß­nah­men ergrif­fen? Oder wird der Main­stream wie­der nach der Empö­rung in eine Lethar­gie und Pas­si­vi­tät verfallen.

Das Pro­blem ist der Umstand, dass wir, wenn wir Mas­sen­ein­wan­de­rung aus aller Welt zulas­sen, wir auch Kon­flik­te aus aller Welt impor­tie­ren. Kur­den demons­trie­ren auf deut­schem Boden gegen Tür­ken, syri­sche Regie­rungs­an­hän­ger gegen Anhän­ger der syri­schen Oppo­si­ti­on und Pro-Isra­el-Demons­tra­tio­nen tref­fen auf Pro-Palästina-Demonstrationen.

Wir soll­ten dar­auf nicht von Fall zu Fall mit ein­sei­ti­gen Par­tei­nah­men reagie­ren, son­dern mit einer grund­sätz­li­chen Kri­tik an Mas­sen­ein­wan­de­rung. Wer nach Deutsch­land ein­wan­dern und zu uns gehö­ren will, hat die Kon­flik­te sei­ner Hei­mat­län­der hin­ter sich zu las­sen. Die­ses Los­las­sen-Kön­nen ist eine wesent­li­che Vor­aus­set­zung für ech­te Inte­gra­ti­on. Wer die Kon­flikt­la­gen sei­ner alten Hei­mat mit­schleppt und hier aus­agiert, der kann sich gar nicht inte­grie­ren, also zu einem Deut­schen werden.

Wer jetzt meint, er kön­ne der bit­ter nöti­gen Kri­tik an der Mas­sen­ein­wan­de­rung zum Durch­bruch ver­hel­fen, wenn er die Anti­se­mi­tis­mus­keu­le exklu­siv gegen Ein­wan­de­rer aus dem isla­mi­schen Kul­tur­raum schwingt, der hat die­se Keu­le, frü­her, als er denkt, selbst im Gesicht. Es zeich­net sich jetzt schon ab, dass die Alt­par­tei­en und ihre Medi­en die Ver­bre­chen der Paläs­ti­nen­ser den deut­schen Rech­ten anlas­ten. In einer ver­rück­ten Vol­te geben sie der Anti­se­mi­tis­mus­keu­le im Ver­weis auf den isla­mis­ti­schen Anti­se­mi­tis­mus erst mehr Gewicht, um sie dann mit vol­ler Wucht den deut­schen Patrio­ten ent­ge­gen­schleu­dern. Mit sol­chen ver­gif­te­ten Argu­men­ten soll­ten wir nicht han­tie­ren. Wir soll­ten deut­lich machen, dass die­se Kon­flik­te nicht unse­re Kon­flik­te sind und soll­ten die Mas­sen­ein­wan­de­rung ohne Ein­mi­schung in die­se frem­den Ange­le­gen­hei­ten ein­fach damit kri­ti­sie­ren, dass wir kei­ne Kon­flik­te aus aller Welt impor­tie­ren wollen.

In Ber­lin kam es zu einer tät­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen einem deut­schen Leh­rer und einem migran­ti­schen Schü­ler, der auf dem Schul­hof eine paläs­ti­nen­si­sche Fah­ne getra­gen haben soll. Auf dem dazu­ge­hö­ri­gen Video, der Vor­fall zei­gen soll, sind fast aus­schließ­lich Schü­ler mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund zu sehen. Eine offi­zi­el­le Sta­tis­tik besagt, dass im Schul­jahr 2022/2023 an der genann­ten Schu­le 95 Pro­zent der Schü­ler eine nicht­deut­sche Her­kunfts­spra­che hat­ten. Auch auf den Vide­os, die eini­ge Pro-Paläs­ti­na-Demos zeig­ten, waren fast nur Migran­ten zu erken­nen. Was schla­gen Sie als Islam­wis­sen­schaft­ler und AfD-Poli­ti­ker vor, um dem eben ange­spro­che­nen Pro­blem der impor­tier­ten Kon­flik­te und dem damit ein­her­ge­hen­den Ver­lust von Iden­ti­tät, Hei­mat und Sicher­heits­ge­fühl zu begegnen?

Wie soeben aus­ge­führt, ist das Pro­blem der gene­rel­le Import von frem­den Kon­flik­ten durch Mas­sen­ein­wan­de­rung. Neben einer restrik­ti­ven Ein­wan­de­rungs­po­li­tik, wie die AfD sie seit Jahr und Tag for­dert, wäre auch das Ver­samm­lungs­recht ein Ansatz­punkt. Die Ver­samm­lungs­frei­heit aus Art 8 GG ist Gott sei Dank – noch – ein soge­nann­tes Deut­schen­grund­recht, das nur für deut­sche Staats­bür­ger gilt. Die Lin­ken und Grü­nen woll­ten das zwar ändern, aber sind damit nicht durch­ge­kom­men. Wir müs­sen die­ses Deut­schen­grund­recht wei­ter beschrän­ken, so dass Demons­tra­tio­nen, die sich nicht auf deut­sche Ange­le­gen­hei­ten bezie­hen, leich­ter ver­bo­ten wer­den kön­nen. Das wäre auch kei­ne Ein­schrän­kung demo­kra­ti­scher Grund­rech­te, denn wir müs­sen auf deut­schem Boden kei­ne Fra­gen ver­han­deln, die weder Deutsch­land betref­fen noch in Deutsch­land ent­schie­den werden.

Was den von Ihnen ange­spro­che­nen Vor­fall angeht, so wür­de ich ein Ver­bot des Zei­gens von Flag­gen frem­der Staa­ten auf dem Schul­hof erwä­gen. Aus­nah­men etwa beim Besuch aus Part­ner­schu­len etc. kön­nen von der Schul­lei­tung ange­ord­net wer­den. Wir brau­chen auf unse­ren Schul­hö­fen weder Paläs­ti­na­flag­gen noch Israelflaggen!

In den Dis­kus­sio­nen über den mus­li­mi­schen Anti­se­mi­tis­mus wei­sen eini­ge Kom­men­ta­to­ren dar­auf hin, dass es ihn gar nicht gibt. Ande­re mei­nen, er sei nur eine sekun­dä­re Ver­klei­dung eines eth­ni­schen und poli­ti­schen Kon­flikts zwi­schen Paläs­ti­nen­sern und Israe­lis. Herr Dr.Tillschneider – gibt es einen mus­li­mi­schen Anti­se­mi­tis­mus, wie äußert er sich und ist er mit dem rech­ten Anti­se­mi­tis­mus zu vergleichen?

Das ist ein Streit um Wor­te. Der Anti­se­mi­tis­mus­be­griff ist völ­lig über­dehnt wor­den. Den­ken Sie nur an den sog. „sekun­dä­ren Anti­se­mi­tis­mus“. Mitt­ler­wei­le habe ich sogar schon erlebt, dass von einem „ter­tiä­ren Anti­se­mi­tis­mus“ gefa­selt wur­de. Das ist höhe­rer Blöd­sinn. So wer­den unlieb­sa­me Mei­nun­gen, die nichts mit Anti­se­mi­tis­mus zu tun haben, ein­fach als Anti­se­mi­tis­mus abge­stem­pelt, weil die­ses Eti­kett sich immer noch am bes­ten eig­net, um poli­ti­sche Posi­tio­nen zu erledigen.

Wenn wir aber Anti­se­mi­tis­mus streng als eine Hal­tung defi­nie­ren, die Juden ablehnt, weil sie Juden sind, dann gibt es natür­lich einen isla­mi­schen Anti­se­mi­tis­mus genau­so wie einen katho­li­schen Anti­se­mi­tis­mus. Als Legi­ti­ma­ti­on die­nen im Islam die kora­ni­schen Erzäh­lun­gen, wonach die Juden den Pro­phe­ten Muham­mad nicht als Pro­phe­ten aner­kannt, son­dern in Medi­na sogar aktiv bekämpft haben und dafür von Muham­mad ermor­det wur­den. Die­se kora­ni­schen Scha­blo­nen haben sich dadurch ver­fes­tigt, dass sie immer wie­der zur Erklä­rung der aktu­el­len poli­ti­schen Ver­hält­nis­se genutzt wurden.

Mit der alten rech­ten oder bes­ser gesagt: alt­rech­ten Juden­feind­schaft ver­bin­det die isla­mi­sche Juden­feind­schaft sehr wenig. Die alt­rech­te Juden­feind­schaft wur­zelt in der Ras­sen­ideo­lo­gie, die sich im 19. Jahr­hun­dert ent­wi­ckelt hat, und ist inso­fern ein moder­nes Phä­no­men, das im Holo­caust auf fürch­ter­li­che Wei­se kul­mi­nier­te, aber mitt­ler­wei­le eine nur noch his­to­ri­sche Erschei­nung ist. Die Neue Rech­te hat den Anti­se­mi­tis­mus hin­ter sich gelassen.

Die katho­li­sche Juden­feind­schaft, die davon zu tren­nen ist, ver­bin­det auf­grund ihrer reli­giö­sen Fun­die­rung etwas mehr mit der isla­mi­schen Juden­feind­schaft, sie kann aber auch als mitt­ler­wei­le über­wun­den gel­ten. Die isla­mi­sche Juden­feind­schaft dage­gen äußert sich recht vital, wobei auch sie – wie alles in der mensch­li­chen Geschich­te – durch neue Lebens­tat­sa­chen über­wind­bar wäre.

Sind die Paläs­ti­nen­ser heu­te in ihrem Kampf gegen Isra­el eher reli­gi­ös geprägt oder han­delt es sich, wie eben erwähnt, um einen eth­nisch-poli­ti­schen Kon­flikt? Die Hamas zum Bei­spiel wur­de erst in den 80er Jah­ren gegrün­det, zwan­zig Jah­re nach der links-säku­la­ren Volks­front zur Befrei­ung Paläs­ti­nas. Was bewegt einen jun­gen Paläs­ti­nen­ser im Gaza-Strei­fen oder in der Dia­spo­ra, sich dem Kampf gegen Isra­el anzu­schlie­ßen – not­falls auch mit Gewalt? Juden­hass oder der Wunsch, die Geschich­te seit 1949 zu verändern?

Der Kampf der Paläs­ti­nen­ser gegen Isra­el wie­der­um ist ein isla­mis­tisch ein­ge­färb­ter eth­nisch-poli­ti­scher Kon­flikt. Zu den Hoch­zei­ten des Kom­mu­nis­mus, als die UdSSR natio­na­le Befrei­ungs­be­we­gun­gen in der Drit­ten Welt geför­dert hat, war der Wider­stand der Paläs­ti­nen­ser gegen Isra­el natur­ge­mäß eher links-säku­lar geprägt. Mit dem Zusam­men­bruch der UdSSR haben dann, wie von Hun­ting­ton pro­phe­zeit, reli­gi­ös-kul­tu­rel­le Iden­ti­fi­ka­tio­nen poli­tisch-ideo­lo­gi­sche Iden­ti­fi­ka­tio­nen ersetzt. Des­halb arti­ku­liert sich der Kampf der Paläs­ti­nen­ser gegen Isra­el heu­te reli­gi­ös, es sind aber ober­fläch­li­che und sekun­dä­re Erklärungsmuster.

Ver­tre­ter Ihrer Par­tei äußern sich unter­schied­lich zum neu­en Gaza-Krieg. Die Bun­des­tags­frak­ti­on ver­ur­teil­te in einer Pres­se­mit­tei­lung das Vor­ge­hen der Hamas und bekun­de­te ihre Soli­da­ri­tät mit Isra­el und dem jüdi­schen Volk. Wäh­rend der Par­tei­vor­sit­zen­de Chrup­al­la kurz und bün­dig eine diplo­ma­ti­sche Lösung for­dert, trom­meln eini­ge Akteu­re für die Unter­stüt­zung Isra­els. Ande­re schwei­gen. Die Posi­tio­nen bil­den sich – zuge­spitzt for­mu­liert – zwi­schen den Polen „Unter­stüt­zung Isra­els“ und „Neu­tra­li­tät“ her­aus. Droht hier ein neu­er inne­rer Kon­flikt wie im Ukraine-Krieg?

Ich hof­fe nicht. Wir haben ein Inter­es­se an guten Bezie­hun­gen zu Isra­el als einem hoch ent­wi­ckel­ten Staat und einem moder­nen Wirt­schafts- und Wis­sen­schafts­stand­ort. Wir haben aber auch Inter­es­se an guten Bezie­hun­gen zur ara­bi­schen Welt und zum Iran, und zwar allein schon wegen der Roh­stof­fe. Sowohl zu Isra­el als auch zur ara­bi­schen Welt und zum Iran bestehen auch his­to­risch gute Beziehungen.

Wenn man aber ein Inter­es­se an guten Bezie­hun­gen zu zwei Akteu­ren hat und die­se sich strei­ten, ver­bie­tet sich eine ein­sei­ti­ge Par­tei­nah­me. Was unse­rem Inter­es­se ent­spricht, ist eine neu­tra­le Posi­ti­on. Abge­se­hen davon ver­bie­tet sich eine Par­tei­nah­me allein schon des­halb, weil bei­de Sei­ten in der Ver­gan­gen­heit viel­fach Recht und Men­schen­recht gebro­chen haben und nie­mand mehr sagen kann, ob und wenn ja, wer hier im Recht sei.

Was wir jetzt brau­chen, ist eine diplo­ma­ti­sche Lösung. Isra­el muss auf­hö­ren, eine ech­te Zwei­staa­ten­lö­sung aus­zu­brem­sen. Die Paläs­ti­nen­ser müs­sen auf­hö­ren, aus der Asym­me­trie der Macht­ver­hält­nis­se ein Recht auf maß­lo­sen Ter­ror abzu­lei­ten. In die­sem Sin­ne muss auf bei­de Sei­ten ein­ge­wirkt wer­den. Die Vor­stö­ße der Tür­kei wie auch die jüngs­te Erklä­rung der Ara­bi­schen Liga gehen in die rich­ti­ge Rich­tung und schei­nen mir unter­stüt­zens­wert. Russ­land und Chi­na haben eine ähn­li­che Posi­ti­on. Wenn alle die­se Kräf­te, die ernst­haft an Frie­den inter­es­siert sind, Druck auf die Hamas und Isra­el aus­üben, kann eine diplo­ma­ti­sche Lösung gelingen.

Die klu­ge und aus­ge­wo­ge­ne Erklä­rung zu die­ser Fra­ge von Tino Chrup­al­la ent­spricht der Mehr­heits­mei­nung in der Par­tei, und das ist gut so.

Herr Dr. Till­schnei­der, vie­len Dank für Ihre Antworten!


Zur Per­son:

Dr. Hans-Tho­mas Till­schnei­der ist Islam­wis­sen­schaft­ler und sitzt seit 2016 für die AfD im Land­tag Sach­sen-Anhalt. Dort ist er der kul­tur­po­li­ti­sche Spre­cher der AfD-Frak­ti­on. Wäh­rend der Zwei­ten Inti­fa­da (2000–2005) stu­dier­te er in Damaskus.

https://www.freilich-magazin.com/welt/islamwissenschaftler-tillschneider-zum-gaza-krieg-was-sind-die-hintergruende

13.10.2023