Islamwissenschaftler Tillschneider zum Gaza-Krieg: Was sind die Hintergründe?
Der neue Gaza-Krieg und die brutalen Ereignisse erschüttern seit Samstag den Westen. Manche Beobachter sehen in dem neuen Gewaltausbruch den verheerenden Antisemitismus der Hamas. Der AfD-Politiker Dr. Hans-Thomas Tillschneider betont im FREILICH-Interview die geopolitischen Dimensionen und erklärt die Hintergründe der Hamas.
Dr. Hans-Thomas Tillschneider: Eben nicht. Die Region befand sich doch in einem erfolgreichen Friedensprozess. Iran und Saudi-Arabien haben sich unter chinesischer Führung angenähert. Syrien hat auf russische Initiative hin seinen Frieden mit den Golfstaaten gemacht, die noch vor wenigen Jahren den islamistischen Terror gegen die syrische Regierung unterstützt haben. Auch eine Annäherung zwischen Israel und weiteren arabischen Staaten, insbesondere Saudi-Arabien, war zu beobachten. Am Horizont zeichnete sich eine israelisch-syrische Annäherung ab, und das wäre wirklich der Schlüssel zur dauerhaften Befriedung der gesamten Region.
Der aktuelle Konflikt wirft aus lächerlich nichtigem Anlass diesen Friedensprozess um Jahrzehnte zurück. Soweit ich weiß, hat die Hamas ihren Angriff mit den Besuchen des israelischen Sicherheitsminister Ben-Gvir auf dem Tempelberg begründet. Das mag ausreichen, um leicht reizbare Palästinenser zu mobilisieren. Ich denke aber, dass anderes im Hintergrund steht. Wer hat denn überhaupt kein Interesse daran, dass der Nahe Osten unter chinesisch-russischer Initiative befriedet wird?
Das klingt auf den ersten Blick sehr abenteuerlich! Sie meinen wahrscheinlich die USA. Mit großer Schlagkraft, moderner Ausrüstung und taktischer Disziplin gelang es der Hamas, die ersten israelischen Verteidigungslinien zu überrumpeln. Beobachter glauben, hinter dieser Aktion auch externe Akteure wie den Iran zu erkennen. Manche sehen darin sogar einen weiteren Konfliktherd in den aktuellen geopolitischen Verwerfungen, die der Ukraine-Krieg und die amerikanisch-chinesische Rivalität mit sich bringen. Sind also die neuen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas eine neue regionale Ausprägung des geopolitischen Konflikts der Großmächte oder nur ein weiterer Punkt im bestehenden Nahostkonflikt? Oder beides?
Die Verbindungen zwischen den USA und islamistischen Gruppierungen sind spätestens seit dem ersten Afghanistankrieg und dann den Jugoslawienkriegen allgemein bekannt und gut dokumentiert. Die USA haben Osama bin Laden groß gemacht.
Unter allen arabisch-islamischen Gruppierungen, die gegen Israel kämpfen, hat die Hamas wiederum die mit Abstand besten Verbindungen zu den USA. Die Hamas hat jahrelang zusammen mit den von den USA finanzierten islamistischen Terrorgruppen in Syrien gegen Baschar al-Assad gekämpft.
Zugleich haben die USA, vorsichtig formuliert, nicht das geringste Interesse daran, dass der Nahe Osten auf chinesische und russische Initiative hin befriedet wird.
Beweisbar ist so etwas natürlich nicht, aber wenn ich über die Hintergründe der aktuellen Auseinandersetzung spekuliere, über Motive und Möglichkeiten, so würde ich doch die Vermutung wagen, dass die USA über ihre klandestinen Hamas-Kontakte zumindest einen Impuls für den Angriff gegeben haben könnten. Das ist in meinen Augen die wahrscheinlichste Erklärung.
Dazu passt ein interessantes Video, das zurzeit im Internet kursiert. In einem Kellerraum lagern große Mengen von Infanteriewaffen. Der Filmer erklärt, während er die Waffen mit der Kamera abgeht, auf Arabisch, dass man den ukrainischen Behörden sehr dankbar dafür sein, dass sie bereit waren, diese Waffen zu verkaufen. Die Authentizität lässt sich natürlich kaum beweisen, es ist aber ein weiteres Indiz.
Die USA verdächtigen wahrscheinlich die wenigsten. Kommen wir noch mal zurück auf die Hamas: Diese ist sehr brutal vorgegangen. Viele Zivilisten wurden gefangen genommen und nach Gaza zurückgebracht. Einige Videos zeigen verstörende Szenen, in denen Geißeln als Kriegsbeute gefeiert oder die Leichen gefallener israelischer Soldaten geschändet werden. Die Brutalität erinnert an Zustände, wie wir sie aus der aktiven Zeit des Islamischen Staates vor einigen Jahren kennen. Lassen sich beide Akteure miteinander vergleichen? Oder muss die Hamas vor dem Hintergrund des seit der Gründung Israels andauernden Nahostkonflikts anders analysiert und bewertet werden?
Der Islamische Staat hat einen regelrechten Kult um grauenhafte Hinrichtungsmethoden entwickelt. Da wurden Menschen ertränkt, indem man sie in einem Käfig langsam in einen Swimmingpool getaucht hat. Da wurden Menschen wie Schafe geschlachtet, indem man ihnen die Kehle angeschnitten und sie zum Ausbluten im Schlachthaus aufgehangen hat. Dazu wurden Koranrezitationen oder religiöse Lieder eingespielt. Das waren aus bestialischer Fantasie geborene, aufwendig inszenierte Gräueltaten. Durch den religiösen Hintergrund könnte man von Ritualtötungen sprechen. Das waren moderne Menschenopfer, gefilmt im Stil von Hollywood.
Die Gewalt, die von der Hamas ausgeht, ist anders strukturiert. Hier sehen wir eine zwar massive, aber wenig reflektierte Gewalt als Ergebnis spontaner Enthemmung. Da werden Menschen auf der Stelle brutal totgeschlagen, da reagieren sich aus dem Gefecht kommende Kämpfer an den Leichen der getöteten Feinde ab, da wird wahllos auf Zivilisten geschossen, da kommt es zu Vergewaltigungen. Das sind auch alles schändliche Kriegsverbrechen, die ich nicht ansatzweise rechtfertigen will. Es ist aber etwas anders als die Gräuel des IS.
Die Motivation der Hamas-Kämpfer besteht in einem unbändigen Hass auf israelische Bürger, die pauschal als Zionisten bezeichnet werden und von denen so viele wie möglich getötet werden sollen. Auf ihrem Telegram-Kanal feiert die Hamas die steigende Zahl der israelischen Todesopfer wie Aktienkurse oder sportliche Rekordmarken. Diese Brutalität zielt nicht auf die Qualität des Tötens, sondern auf die schiere Quantität. Das Ziel ist, so schnell wie möglich so viele Israelis wie möglich zu töten. Da man den Staat Israel vernichten will, dazu aber nicht in der Lage ist, ermordet man wahllos seine Bürger und knallt massenweise Besucher eines Musikfestivals ab, weil man mit jedem Israeli ein Stück Israel vernichtet. Man könnte von symbolischen Morden sprechen.
Viele Politiker, Journalisten und Kommentatoren zeigen sich im Netz schockiert über die Ereignisse und solidarisieren sich mit Israel. Sie wundern sich aber auch über die offen pro-palästinensischen Demonstrationen und Äußerungen vor allem muslimischer Einwanderer. Die AfD hat immer wieder darauf hingewiesen, dass mit der Masseneinwanderung aus dem Nahen Osten natürlich auch die dortigen Konflikte nach Europa getragen werden. Glauben Sie, dass jetzt endlich anders über muslimische Masseneinwanderung gedacht und gesprochen wird? Werden jetzt konkrete Maßnahmen ergriffen? Oder wird der Mainstream wieder nach der Empörung in eine Lethargie und Passivität verfallen.
Das Problem ist der Umstand, dass wir, wenn wir Masseneinwanderung aus aller Welt zulassen, wir auch Konflikte aus aller Welt importieren. Kurden demonstrieren auf deutschem Boden gegen Türken, syrische Regierungsanhänger gegen Anhänger der syrischen Opposition und Pro-Israel-Demonstrationen treffen auf Pro-Palästina-Demonstrationen.
Wir sollten darauf nicht von Fall zu Fall mit einseitigen Parteinahmen reagieren, sondern mit einer grundsätzlichen Kritik an Masseneinwanderung. Wer nach Deutschland einwandern und zu uns gehören will, hat die Konflikte seiner Heimatländer hinter sich zu lassen. Dieses Loslassen-Können ist eine wesentliche Voraussetzung für echte Integration. Wer die Konfliktlagen seiner alten Heimat mitschleppt und hier ausagiert, der kann sich gar nicht integrieren, also zu einem Deutschen werden.
Wer jetzt meint, er könne der bitter nötigen Kritik an der Masseneinwanderung zum Durchbruch verhelfen, wenn er die Antisemitismuskeule exklusiv gegen Einwanderer aus dem islamischen Kulturraum schwingt, der hat diese Keule, früher, als er denkt, selbst im Gesicht. Es zeichnet sich jetzt schon ab, dass die Altparteien und ihre Medien die Verbrechen der Palästinenser den deutschen Rechten anlasten. In einer verrückten Volte geben sie der Antisemitismuskeule im Verweis auf den islamistischen Antisemitismus erst mehr Gewicht, um sie dann mit voller Wucht den deutschen Patrioten entgegenschleudern. Mit solchen vergifteten Argumenten sollten wir nicht hantieren. Wir sollten deutlich machen, dass diese Konflikte nicht unsere Konflikte sind und sollten die Masseneinwanderung ohne Einmischung in diese fremden Angelegenheiten einfach damit kritisieren, dass wir keine Konflikte aus aller Welt importieren wollen.
In Berlin kam es zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen einem deutschen Lehrer und einem migrantischen Schüler, der auf dem Schulhof eine palästinensische Fahne getragen haben soll. Auf dem dazugehörigen Video, der Vorfall zeigen soll, sind fast ausschließlich Schüler mit Migrationshintergrund zu sehen. Eine offizielle Statistik besagt, dass im Schuljahr 2022/2023 an der genannten Schule 95 Prozent der Schüler eine nichtdeutsche Herkunftssprache hatten. Auch auf den Videos, die einige Pro-Palästina-Demos zeigten, waren fast nur Migranten zu erkennen. Was schlagen Sie als Islamwissenschaftler und AfD-Politiker vor, um dem eben angesprochenen Problem der importierten Konflikte und dem damit einhergehenden Verlust von Identität, Heimat und Sicherheitsgefühl zu begegnen?
Wie soeben ausgeführt, ist das Problem der generelle Import von fremden Konflikten durch Masseneinwanderung. Neben einer restriktiven Einwanderungspolitik, wie die AfD sie seit Jahr und Tag fordert, wäre auch das Versammlungsrecht ein Ansatzpunkt. Die Versammlungsfreiheit aus Art 8 GG ist Gott sei Dank – noch – ein sogenanntes Deutschengrundrecht, das nur für deutsche Staatsbürger gilt. Die Linken und Grünen wollten das zwar ändern, aber sind damit nicht durchgekommen. Wir müssen dieses Deutschengrundrecht weiter beschränken, so dass Demonstrationen, die sich nicht auf deutsche Angelegenheiten beziehen, leichter verboten werden können. Das wäre auch keine Einschränkung demokratischer Grundrechte, denn wir müssen auf deutschem Boden keine Fragen verhandeln, die weder Deutschland betreffen noch in Deutschland entschieden werden.
Was den von Ihnen angesprochenen Vorfall angeht, so würde ich ein Verbot des Zeigens von Flaggen fremder Staaten auf dem Schulhof erwägen. Ausnahmen etwa beim Besuch aus Partnerschulen etc. können von der Schulleitung angeordnet werden. Wir brauchen auf unseren Schulhöfen weder Palästinaflaggen noch Israelflaggen!
In den Diskussionen über den muslimischen Antisemitismus weisen einige Kommentatoren darauf hin, dass es ihn gar nicht gibt. Andere meinen, er sei nur eine sekundäre Verkleidung eines ethnischen und politischen Konflikts zwischen Palästinensern und Israelis. Herr Dr.Tillschneider – gibt es einen muslimischen Antisemitismus, wie äußert er sich und ist er mit dem rechten Antisemitismus zu vergleichen?
Das ist ein Streit um Worte. Der Antisemitismusbegriff ist völlig überdehnt worden. Denken Sie nur an den sog. „sekundären Antisemitismus“. Mittlerweile habe ich sogar schon erlebt, dass von einem „tertiären Antisemitismus“ gefaselt wurde. Das ist höherer Blödsinn. So werden unliebsame Meinungen, die nichts mit Antisemitismus zu tun haben, einfach als Antisemitismus abgestempelt, weil dieses Etikett sich immer noch am besten eignet, um politische Positionen zu erledigen.
Wenn wir aber Antisemitismus streng als eine Haltung definieren, die Juden ablehnt, weil sie Juden sind, dann gibt es natürlich einen islamischen Antisemitismus genauso wie einen katholischen Antisemitismus. Als Legitimation dienen im Islam die koranischen Erzählungen, wonach die Juden den Propheten Muhammad nicht als Propheten anerkannt, sondern in Medina sogar aktiv bekämpft haben und dafür von Muhammad ermordet wurden. Diese koranischen Schablonen haben sich dadurch verfestigt, dass sie immer wieder zur Erklärung der aktuellen politischen Verhältnisse genutzt wurden.
Mit der alten rechten oder besser gesagt: altrechten Judenfeindschaft verbindet die islamische Judenfeindschaft sehr wenig. Die altrechte Judenfeindschaft wurzelt in der Rassenideologie, die sich im 19. Jahrhundert entwickelt hat, und ist insofern ein modernes Phänomen, das im Holocaust auf fürchterliche Weise kulminierte, aber mittlerweile eine nur noch historische Erscheinung ist. Die Neue Rechte hat den Antisemitismus hinter sich gelassen.
Die katholische Judenfeindschaft, die davon zu trennen ist, verbindet aufgrund ihrer religiösen Fundierung etwas mehr mit der islamischen Judenfeindschaft, sie kann aber auch als mittlerweile überwunden gelten. Die islamische Judenfeindschaft dagegen äußert sich recht vital, wobei auch sie – wie alles in der menschlichen Geschichte – durch neue Lebenstatsachen überwindbar wäre.
Sind die Palästinenser heute in ihrem Kampf gegen Israel eher religiös geprägt oder handelt es sich, wie eben erwähnt, um einen ethnisch-politischen Konflikt? Die Hamas zum Beispiel wurde erst in den 80er Jahren gegründet, zwanzig Jahre nach der links-säkularen Volksfront zur Befreiung Palästinas. Was bewegt einen jungen Palästinenser im Gaza-Streifen oder in der Diaspora, sich dem Kampf gegen Israel anzuschließen – notfalls auch mit Gewalt? Judenhass oder der Wunsch, die Geschichte seit 1949 zu verändern?
Der Kampf der Palästinenser gegen Israel wiederum ist ein islamistisch eingefärbter ethnisch-politischer Konflikt. Zu den Hochzeiten des Kommunismus, als die UdSSR nationale Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt gefördert hat, war der Widerstand der Palästinenser gegen Israel naturgemäß eher links-säkular geprägt. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR haben dann, wie von Huntington prophezeit, religiös-kulturelle Identifikationen politisch-ideologische Identifikationen ersetzt. Deshalb artikuliert sich der Kampf der Palästinenser gegen Israel heute religiös, es sind aber oberflächliche und sekundäre Erklärungsmuster.
Vertreter Ihrer Partei äußern sich unterschiedlich zum neuen Gaza-Krieg. Die Bundestagsfraktion verurteilte in einer Pressemitteilung das Vorgehen der Hamas und bekundete ihre Solidarität mit Israel und dem jüdischen Volk. Während der Parteivorsitzende Chrupalla kurz und bündig eine diplomatische Lösung fordert, trommeln einige Akteure für die Unterstützung Israels. Andere schweigen. Die Positionen bilden sich – zugespitzt formuliert – zwischen den Polen „Unterstützung Israels“ und „Neutralität“ heraus. Droht hier ein neuer innerer Konflikt wie im Ukraine-Krieg?
Ich hoffe nicht. Wir haben ein Interesse an guten Beziehungen zu Israel als einem hoch entwickelten Staat und einem modernen Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort. Wir haben aber auch Interesse an guten Beziehungen zur arabischen Welt und zum Iran, und zwar allein schon wegen der Rohstoffe. Sowohl zu Israel als auch zur arabischen Welt und zum Iran bestehen auch historisch gute Beziehungen.
Wenn man aber ein Interesse an guten Beziehungen zu zwei Akteuren hat und diese sich streiten, verbietet sich eine einseitige Parteinahme. Was unserem Interesse entspricht, ist eine neutrale Position. Abgesehen davon verbietet sich eine Parteinahme allein schon deshalb, weil beide Seiten in der Vergangenheit vielfach Recht und Menschenrecht gebrochen haben und niemand mehr sagen kann, ob und wenn ja, wer hier im Recht sei.
Was wir jetzt brauchen, ist eine diplomatische Lösung. Israel muss aufhören, eine echte Zweistaatenlösung auszubremsen. Die Palästinenser müssen aufhören, aus der Asymmetrie der Machtverhältnisse ein Recht auf maßlosen Terror abzuleiten. In diesem Sinne muss auf beide Seiten eingewirkt werden. Die Vorstöße der Türkei wie auch die jüngste Erklärung der Arabischen Liga gehen in die richtige Richtung und scheinen mir unterstützenswert. Russland und China haben eine ähnliche Position. Wenn alle diese Kräfte, die ernsthaft an Frieden interessiert sind, Druck auf die Hamas und Israel ausüben, kann eine diplomatische Lösung gelingen.
Die kluge und ausgewogene Erklärung zu dieser Frage von Tino Chrupalla entspricht der Mehrheitsmeinung in der Partei, und das ist gut so.
Herr Dr. Tillschneider, vielen Dank für Ihre Antworten!
Zur Person:
Dr. Hans-Thomas Tillschneider ist Islamwissenschaftler und sitzt seit 2016 für die AfD im Landtag Sachsen-Anhalt. Dort ist er der kulturpolitische Sprecher der AfD-Fraktion. Während der Zweiten Intifada (2000–2005) studierte er in Damaskus.
13.10.2023