Die falsche Bescheidenheit
Sie sind gegeben unter hundert Quäler
und, angeschrien von jeder Stunde Schlag,
kreisen sie einsam um die Hospitäler
und warten angstvoll auf den Einlaßtag.
(R.M.Rilke, Von der Armut und vom Tode)
In den Kreisen der konservativen Opposition, die über die aktuelle Lage nachdenken, hat sich eine Deutung der Corona-Krise eingeschlichen, die in den Beschränkungen des öffentlichen – und nicht nur öffentlichen – Lebens eine Bestätigung der eigenen Ansichten erkennt. Jüngstes Beispiel: Heino Bosselmann verfällt in der Sezession in ein Lob der Bescheidenheit und des “Mimimum(s) im Verbrauch” (https://sezession.de/62996/wumms). Haben wir nicht die Entgrenzungsideologien als die reinste Form der Ideologie unserer Feinde ausgemacht, und was widerspricht einer Entgrenzung mehr als die vielfältigen Begrenzungen, niederlegt in den Corona-Verordnungen der Exekutive? Maßhalten, Bescheidenheit, Sich-Zurücknehmen, sind das nicht alles genuin konservative Haltungen? Weshalb also nicht mitmachen oder zumindest das Beste draus machen? Die Antwort ist einfach: Es wäre der Versuch, eine Bewegung, die gegen uns gerichtet ist, in unsere Bewegung umzudeuten. Ein Selbstbetrug, der Maßhalten mit Verkümmerung verwechselt und Sich-Zurücknehmen mit Betrogen-Werden. Es sind schlechte Zeiten, das Mimimum im Verbrauch zu loben.
Legen wir ruhig einmal die offizielle Corona-Version zugrunde, also die Erzählung vom exponentiellen Anstieg der Infizierten und der dann drohenden Überlastung der Behandlungskapazitäten mit den dann notwendigen Entscheidungen, wer weiterleben darf und wer nicht, die so menschenwürdewidrig sein sollen, daß jedes materielle Opfer gerechtfertigt sein soll, wenn es gilt, dergleichen zu vermeiden, was dann als die Letztbegründung für das ganze System der Corona-Verordnungen herhalten muß. Schon in der Welt dieser Erzählung ließe sich anmerken, daß genau genommen nicht das Virus die tiefere Ursache der Krise ist, sondern der Umstand, daß an unseren Krankenhäusern kaum noch freie Kapazitäten vorhanden sind. Was ist das für ein Gesundheitssystem, das unter einer etwas heftigeren Grippewelle oder vielleicht einer doch etwas (aber nicht viel) gefährlicheren Welle als nur einer Grippewelle zusammenzubrechen droht?
Die Zeiten, in denen längst genesene Patienten, die eher an Langeweile als an sonst etwas zu sterben drohten, von übervorsichtigen Onkel-Doktor-Typen überredet werden mußten, zur Sicherheit noch ein paar Tage im Krankhaus zu bleiben, sind vorbei. Heute torkeln eilig vernähte und verbundene Kranke, die noch im Krankenhausbett hätten bleiben müssen, benommen nach Hause. Jeder kennt Geschichten von verfrüht Entlassenen, die als Notfälle mit Entzündungen, nicht heilen wollenden Wunden und aufgeplatzten Nähten wieder eingeliefert werden mußten. Selbst in den Lazaretten während der Weltkriege hat man sich mehr Zeit gelassen. Die Betriebswirtschaftslehre triumphiert über die Medizin. Der Betrieb strebt nicht nach Heilung, sondern nach Auslastung. Das Heilen ist nur noch Mittel zum Zweck, Zweck ist die optimale Nutzung der Kapazitäten. Maximaler Gewinn mit minimalem Einsatz ist die Maxime, die alles regiert. So wird klar: Die Corona-Verordnungen geben nur vor, ihr Zweck bestünde darin, Menschen zu schützen. In Wahrheit schützen sie ein System, das auf der restlosen Verwertung des Menschen, auf der Reduktion jedes Reibungsverlustes, der Optimierung jedes Ablaufs und der Maximierung der Auslastung jeder Kapazität beruht.
Ein Gesundheitssystem, das noch ein Gesundheitssystem ist, dient nicht dem Profit, sondern der Volksgesundheit und hält für alle Fälle, seien es Naturkatastrophen, Terroranschläge oder Epidemien, freie Kapazitäten vor. Ein Krankenhaus ist kein Charterflug, der bis auf den letzten Sitz ausgebucht sein muß. Genau dazu aber ist es unter der Diktatur eines globalen Investitionssystem geworden, und genau das ist der eigentliche Sinn der offiziellen Corona-Erzählung. Zu viele dürfen sich nicht erlauben, auf einmal zu sterben. Die Masse mit Mundschutz soll Extrarunden vor den Hospitälern drehen und artig auf den Einlaßtag warten. Die Intensität der Ausbeutung hat eine Stufe erreicht, wo Zeit und Raum auf immer engere Kreise schrumpfen. Die Reduktion des Radius geht einher mit dem Verlust der Spontanität. Jeder Gruppenspaziergang muß angemeldet werden. Wir müssen auf Schritt und Tritt berechenbarer werden, weil sich so das Maximum an Profit kalkulieren und aus uns herausberechnen läßt. Das ist nichts, was mit dem Corona-Verordnungen in die Welt kam, sondern etwas, was sich in der longue durée vollzieht und sich an den Verschärfungen aller Ordnungsbestimmungen über Jahrzehnte hinweg ablesen läßt.
Wir müssen, bevor wir einen Ofen in unser Haus setzen, um Erlaubnis bitten, brauchen Waffenscheine für Spielzeugpistolen, dürfen nirgendwo mehr rauchen, und wenn wir mehr als 20 Kilometer pro Stunde zu schnell fahren, verlieren wir sofort den Führerschein. Was vor 30 Jahren ein Dummer-Jungen-Streich war, ist nun eine mehrfache Straftat. Jede Lebensäußerung wird auf ein Minimum reduziert. Alles muß im voraus gebucht, reserviert, beantragt, geplant werden.
Die Korona-Verordnungen sind eine Einübung in eine neue Dimension und neue Qualität des Profitsystems, ein Kapitalismus der Unfreiheit. Wir sollen lernen, mit weniger zufrieden sein: Weniger Freiheit, weniger Geld, weniger Leben. Der Anlaß ist beliebig, weshalb alle neuen Nachweise geringer Sterblichkeit und mäßiger Gefährlichkeit des Virus die Exekutive nicht anfechten und an den Verantwortlichen abperlen. Das Ganze ist eine Trockenübung. Wir exerzieren die Reduktion unserer Lebensäußerungen. Dieses Weniger bringt uns aber auf der anderen Seite kein Mehr, der reduzierte Konsum bringt keine Entlastung, im Gegenteil. Wir müssen lernen, noch mehr Profit abzuwerfen, indem wir bei reduzierten Ansprüchen das Gleiche leisten. Einfacher gesagt: Die Preise werden steigen, nicht aber die Werte.
Die Verhausschweinung des Menschen wäre der falsche Begriff, denn ein Schwein, auch ein Hausschwein, ist eine verschwenderische Lebensäußerung. Von stattlicher Leibesfülle vertilgt es Unmengen, hinterläßt Unmengen und erzeugt einen bestialischen Gestank. Wir haben es dagegen eher mit einer Verameisung zu tun. Leben ist Verschwendung und Reibungsverlust. So ist es nur folgerichtig, daß der Maximierung des Profits die Minimierung des Lebens entspricht. Wir werden auf Miniaturformate reduziert, abgespeist mit winzigen und abgeschwächten Rationen, die uns abgewöhnen sollen, was echtes Leben bedeutet. Das ist auch der Sinn des Mundschutzes: Er verhindert ein vitales, sauerstofftankendes Durchatmen, und zwingt uns, im eigenen Atmen zu hecheln, so lange, bis es irgendwann vorbei ist.
Hans-Thomas Tillschneider